Gegen Deutschland

Über das Verhältnis zur nationalen Besonderheit sowie zur bürgerlichen Gesellschaft im Allgemeinen als Maßgaben einer linken antideutschen

2020

Politische Gruppen müssen zwangsläufig ein Verhältnis zu dem Staat und der Gesellschaft entwickeln, in denen sie ihre Positionen veröffentlichen und agieren. Implizit geschieht dies ständig, in der Ablehnung bestimmter politischer Entscheidungen, durch Verweise auf antiemanzipatorische Ideologien in der Bevölkerung oder Unmutsäußerungen wie »kill the nation«. Nun mag dies zunächst wie ein Allgemeinplatz klingen, da doch linke Politik, wenn sie kritisiert oder alternative Gesellschaftsformen proklamiert, aktuelle Zustände als Ausgangspunkt hat.

Jedoch ist das Verhältnis zur Nation nicht mit einem einfachen »abschalten« oder »von der Karte streichen« geklärt. Die Verhältnisse, die die Grundlage jeglichen Handelns bilden, sind mit Staat und Nation nur unzureichend beschrieben: Vergesellschaftung, Geschichte und nicht zu Letzt kapitalistische Totalität sind ebenfalls Kennzeichen dieser Verhältnisse. Gerade für Linke in Deutschland müssen spezifische Grundlagen und Voraussetzungen Teil der eigenen Argumentation gegen das Bestehende darstellen. In der Auseinandersetzung zwischen antideutschen und anderen linken Gruppen ist die Positionierung gegenüber dem Staat, in dem man lebt, und die Bezugnahme auf dessen Geschichte und Vergesellschaftung der Unterschied ums Ganze. Kann man sich noch auf ein »Nie wieder Deutschland« einigen, sieht es beim Verhältnis zu bürgerlichen Idealen, an denen sich auch die BRD im Grundgesetz orientiert, oder bei der Beantwortung der Frage, warum es gerade in Deutschland zum Holocaust kam, ganz anders aus. Die Basis, auf der wir im Folgenden argumentieren, ist die Anerkennung von Auschwitz als Zivilisationsbruch, das unüberschreitbare Grauen des Nationalsozialismus, das keinen positiven Bezug auf Deutschland oder »deutsch« zulässt. Und dass somit das Wissen um den NS einzig eine antideutsche Positionierung erlaubt. »Antideutsch« nimmt eine genuine Ablehnung der deutschen Vergesellschaftung zur Grundlage eigenen politischen Agierens. Auf dieser Basis legen wir im Folgenden dar, warum entgegen mancher linker Argumentation der Rahmen Deutschland nicht verlassen werden kann und deutsche Zustände vielfältig Einfluss haben oder sogar bestimmend für jede Politik hier sind.

Der Boden der Tatsachen

Entgegen völkischer Annahmen sind Nationalstaaten keine »natürlich« gewachsenen Gebilde, die sich über Territorium, gemeinsame Kultur und Sprache legitimieren. Sie sind vielmehr ideologische Konstrukte, die im bestehenden System als spezifische Organisationsformen dienen, um den politisch-juristischen Rahmen für kapitalistische Produktionsverhältnisse zu bilden. Im Zuge antikapitalistischer Politik sind Nationalstaaten durchaus zu kritisieren. Allerdings sollte nicht der Fehler begangen werden, lediglich auf dieses allgemeingültige Element zu abstrahieren und daraus begründet die Abschaffung aller Nationalstaaten zu fordern, ohne die Spezifik einzelner Staaten zu berücksichtigen. Deutlichstes Beispiel ist hier Israel: ein eigener Staat garantiert Jüdinnen und Juden »eine sichere Heimstatt«, die ihnen die Möglichkeit bietet, gegen Übergriffe auf ihre Unversehrtheit vorzugehen.

Eine kritische Auseinandersetzung mit dem Konstrukt der Nation muss sich in Deutschland in erster Linie der eigenen Nation zuwenden. Dies gilt einerseits vor dem Hintergrund des im NS begangenen Zivilisationsbruches, wobei ein Fokus antideutscher Politik auf Kontinuitäten im Zusammenhang mit der deutschen Geschichte liegt und andererseits auf der Kritik an den aktuellen deutschen Zuständen. Die in Deutschland gefällten politischen, ökonomischen, sozialen oder kulturellen Entscheidungen betreffen uns nicht nur auf abstrakter Ebene. An deutschem Geschichtsrevisionismus, Antisemitismus und Rassismus von organisierten Nazis oder »ganz normalen« Nachbar:innen ist in diesem Lande nicht vorbei zu kommen. Zudem bestimmt die soziale Realität des Staates, in dem man lebt, jegliches Handeln: Der Abbau des Sozialstaates und der gleichzeitige Reproduktionszwang sowie prekäre Arbeitsverhältnisse sind alltagsbestimmend und können nicht einfach ausgeblendet werden. Schon allein strukturell betrachtet stellt Deutschland den Rahmen für jegliches politisches Handeln dar – ganz simpel aus der Lebensrealität heraus, mit der man sich auseinandersetzen muss. Diese bestimmt nicht nur das eigene Leben und somit politisches Agieren, sondern die öffentlichen Diskurse in Deutschland haben auch direkten Einfluss auf die eigene Politik. Zum einen, weil der Diskurs Themen vorgibt, die es zu kritisieren gilt, zum anderen weil auch linksradikale Politik nicht außerhalb dieses Diskurses zu denken ist. Jede Kritik, so sie öffentlich geäußert wird, ist Teil eines Diskurses und muss diesen berücksichtigen. Daraus folgt, dass sich manche Äußerungen einfach verbieten, weil sie den Falschen zuspielen oder weil sie missverstanden werden müssen. Wer sich zum Beispiel an einem Bündnis wie Unteilbar beteiligt, um »eigene« oder »radikale« Akzente zu setzen, kann nur scheitern. Jede:r wird dort zu einem »anderen Deutschland« gezählt, einem geläuterten, »bunten« Deutschland, das vermeintlich aus seiner Geschichte gelernt hat. Dieses Deutschlandbild ist im Interesse des Staates und der Wirtschaft, es hat nichts Kritisches oder Radikales, eine radikale Linke wird in der Zivilgesellschaft keine Bündnispartner:innen finden. Sie wird dort immer subsumiert werden.

Linke in Deutschland müssen sich spezifisch zu Deutschland verhalten. Dass sich dabei vor dem Hintergrund der spezifisch deutschen Geschichte, die in die Shoa führte, ein positiver Bezug zur »Heimat« und jegliche Affirmation von selbst verbieten, sollte selbstverständliches Grundprinzip antifaschistischer Politik sein.

Deutschland ist und bleibt das Land, dessen Bevölkerung »Volksfremde« ermordete und begeistert Krieg um die Weltherrschaft führte. Noch heute findet kaum eine adäquate Auseinandersetzung mit der eigenen Schuld im NS statt. Immer noch werden in der eigenen Familie keine Täter:innen gesehen, immer noch gibt es heldenhaftes Gedenken an Wehrmachtssoldaten und immer noch verweigert man sich gegen Entschädigungsforderungen von Opfern des Nationalsozialismus. Ein offizielles Gedenken an die Opfer des NS steht keineswegs im Widerspruch zur individuellen wie kollektiven Schuldabwehr, solange man sich nun ebenfalls zum Opfer unter vielen stilisieren kann, das erst unter der Nazidiktatur zu leiden hatte und dann auch noch alliierten Bombern ausgesetzt war oder vertrieben wurde. Diese Relativierung macht es einfacher, auch deutsche Verbrechen einzugestehen und ermöglicht es vorgeben zu können, aus der Geschichte gelernt zu haben. Mit diesem Geschichtsrevisionismus wird gleichzeitig ein Stück Normalität eingefordert – dadurch kann auch Deutschland auf der Seite der Alliierten den Feierlichkeiten zum Jahrestag der Invasion in der Normandie beiwohnen und den 8. Mai als Tag der Befreiung zelebrieren, obwohl es für das Gros der Deutschen eine Niederlage war.

Auch sind Rassismus und Antisemitismus mit dem Kriegsende nicht aus dem deutschen Alltag verschwunden. Dies wird nicht nur bei staatlichen Debatten über Zuwanderung oder Asylgesetze deutlich. Ertrinkende Fliehende werden an der EU-Außengrenze akzeptiert, unmenschliche Unterbringung wie in Moria und anderen »Lagern« für Geflüchtete wird auch von Deutschland gefördert. Nicht mal für geflüchtete Kinder, Frauen, Alte, die sonst angeblich zuerst zu schützen sind, reicht der viel beschworene deutsche Humanismus aus. Und Migrant:innen, die in Deutschland leben, berichten tagtäglich von Schikanen und Anfeindungen. Ebenso sind Übergriffe gegenüber Jüdinnen und Juden keine Seltenheit und haben in den letzten Jahren (nicht nur in Deutschland) kontinuierlich zugenommen. Das Attentat auf die Synagoge in Halle vor einem Jahr ist eines der Beispiele hierfür. Hinzu kommt, dass dem erstarkenden Antisemitismus auch von öffentlicher Seite nicht die Aufmerksamkeit entgegengebracht wird, die angemessen wäre. Vielmehr trägt die einseitige mediale Berichterstattung über den Nahostkonflikt sowie die deutsche bzw. europäische Politik in dieser Region zur anti-israelischen Haltung der Öffentlichkeit bei. Laut einer von der EU- Kommission in Auftrag gegebenen Studie stellt Israel für 65 Prozent der Deutschen eine Gefahr für den Weltfrieden dar und fordere durch seine Politik den Terrorismus geradezu heraus. So passt es gut ins antisemitische Klischee, der jüdischen Bevölkerung die Schuld an den Angriffen auf ihr Leben selbst zuzuschreiben.

Sowenig wie der Antisemitismus, ist die Sehnsucht der Mehrheit der Bevölkerung nach einem starken Staat, der nationale Interessen adäquat umzusetzen weiß, verschwunden. Die Einschränkung von bürgerlichen Rechten und Freiheiten wird zugunsten des nationalen Wohlergehens gern in Kauf genommen.

Bürgerliche Gesellschaft verteidigen?

Wie Deutsche wissen können, führt eine Überwindung der Verhältnisse nicht notwendig zu einer freien, emanzipatorischen Verfasstheit von Gesellschaft. Im antideutschen Diskurs wird Emanzipation immer wieder mit einem positiven Bezug auf die bürgerliche Gesellschaft und Vernunft in Zusammenhang gebracht. Zentral ist hier die Positionierung für eine Rechtsordnung gegen totalitäre Regime, die kritische Intervention erst ermöglicht. Die bürgerliche Gesellschaft in einem demokratisch verfassten Staat ist Voraussetzung für ihre positive Aufhebung (eine bessere Gesellschaft), sie kann aber auch Voraussetzung ihrer negativen Aufhebung sein, wie der Nationalsozialismus zeigte. Er führte eine Strategie vor, wie mit den Widersprüchen innerhalb des kapitalistischen Systems umzugehen sei. Es handelte sich hierbei um den Versuch, die Krise nicht durch die Abschaffung des Kapitalismus, sondern durch die Vernichtung der abstrakten Seite des Kapitals, die auf Juden und Jüdinnen projiziert wurde, zu bewältigen. Zugleich formierte sich die Volksgemeinschaft, deren Mitglieder sich mit »ehrlicher Arbeit« in den Dienst des Gemeinwohls stellten. Die Kritik an und in Deutschland muss diese spezifisch deutsche Form der Vergesellschaftung mit einbeziehen, das bedeutet, Kontinuitäten aufzuzeigen und regressiven Tendenzen entgegenzutreten. Dabei ist der Bezug auf eine bürgerliche Vernunft durchaus hilfreich, die sich für die eigenen Interessen einsetzt und sich nicht für ein Zwangskollektiv rekrutieren lässt. Voraussetzung dafür ist die Wahrnehmung der eigenen Person als Individuum, das sich dem Zugriff des Staates zu widersetzen sucht. Auf diese Voraussetzung für eine Emanzipation und für die positive Überwindung des Kapitalismus beziehen sich in der Regel Positionen, die für eine Verteidigung der bürgerlichen Gesellschaft bzw. ihrer Ideale argumentieren. Die Öffentlichkeit, in der antideutsche Politik ein Forum hat, ist jedoch sehr klein, deshalb bleibt ein Verteidigen der bürgerlichen Vernunft nur bedingt wirkungsmächtig.

Die positive Aufhebung der bürgerlichen Gesellschaft ist momentan nicht abzusehen. In Deutschland ist sie zudem nur schwer vorstellbar. Besonders deutlich wird dies beim Zwang zur Verwertung der eigenen Arbeitskraft. In gesellschaftlichen Debatten um Arbeit und »Arbeitslosigkeit« wird der Sinn von Arbeit an sich nicht hinterfragt, und ein Leben ohne Lohnarbeit ist für die gemeinen Deutschen nicht vorstellbar. Diese Debatten verdeutlichen, wie in der bürgerlichen Gesellschaft Unterdrückungsverhältnisse naturalisiert und damit eine naturwüchsige Notwendigkeit in sie hineinprojiziert wird. Herrschaft wird so legitimiert und als alternativlos angesehen.

Ein eingeschränkt positiver Bezug auf Demokratie und bürgerliche Vernunft ist somit in Abgrenzung zu totalitären Formen der Vergesellschaftung notwendig. Jedoch bedeutet ein uneingeschränkt positiver Bezug das Aufgeben der Hoffnung auf etwas Besseres. Die spezifisch deutsche Krisenlösung und der ihr immanente eliminatorische Antisemitismus werden nicht grundlos als die Barbarei gegenüber der bürgerlichen Gesellschaft bezeichnet. Solange die gesellschaftlichen Bedingungen gegeben sind, besteht auch die Möglichkeit der Wiederholung ähnlicher Formen der Krisenlösung und dies eben nicht nur in Deutschland.

Es geht um Inhalte

Antideutsche Politik ist selbstverständlich nicht territorial gebunden. Obwohl die deutsche Gesellschaft, die politische und soziale Realität der Rahmen jeglicher Kritik in Deutschland ist und diese die Möglichkeiten vorgibt, bleibt emanzipatorische Politik nicht auf diesen Rahmen beschränkt. Der Einwand, schon mit dem Namen »antideutsch« werde auf die Verbundenheit mit Deutschland verwiesen, hält keiner Prüfung stand. Vielmehr wird die explizite Verneinung einer Existenzberechtigung der deutschen Nation mit der Selbstbezeichnung kenntlich gemacht.

Politikfelder, also Themen, die von Interesse für herrschaftskritische Politik sind, ergeben sich reichlich. Es gilt alle, die ihre antiamerikanischen bzw. antisemitischen Ressentiments offen zur Schau tragen, zu kritisieren. Ebenso gehört die deutsche Großmachtpolitik und die damit verbundene Proklamation des »Endes der Nachkriegszeit« zu den Gegenständen unserer Kritik. Das Augenmerk antideutscher Politik richtet sich so nicht nur auf innerdeutsche Entwicklungen, sondern ebenso auf das außenpolitische Agieren einer Regierung, die »wegen Auschwitz« Kriege führt, den Ausbau der deutschen Vormachtstellung in der EU forciert und auf einen festen Sitz im UN-Sicherheitsrat spekuliert. Oder sich gegen die USA als die vermeintlich kulturell überlegene, friedfertigere und menschlichere Alternative in Stellung bringt. Zudem reicht die Auseinandersetzung mit Antisemitismus selbstverständlich über die deutsche Gesellschaft hinaus. Gerade der islamische Antisemitismus, welcher Parallelen zum NS besitzt, ist Gegenstand antideutscher Kritik.

Angesichts des oben beschriebenen Verhältnisses zu Deutschland und der deutschen Vergesellschaftung stellt sich die Frage, an wen sich emanzipatorische Politik richtet und mit wem Bündnisse eingegangen werden können. Diese Frage ist nicht (mehr) leicht zu beantworten. War man früher geneigt, »die radikale Linke« zu antworten, haben antideutschen Gruppen die Frage aufgeworfen, ob sich ihre Praxis überhaupt noch unter dem Label »links« subsumieren lässt. Verständlicherweise möchte man doch nicht Teil eines besseren Deutschlands im Anti-Nazi-Kampf oder eines antiamerikanischen und antisemitischen Mobs bei irgendwelchen Gipfeln und Sozialforen sein. »Links« ist ein weiter und schwammiger Begriff, den sich jede und jeder aneignen kann. Entstanden aus der Sitzverteilung im französischen Nationalkonvent, welche die Republikaner von den Monarchisten unterschied, ist dieser eindimensionale Begriff doch relativ unbrauchbar, um das weite und mehrdimensionale politische Feld zu ordnen. Nichts desto trotz halten sich die Kategorien Rechts und Links bis heute und jede:r meint sich auf dieser Dimension einordnen zu können: Antideutsche, Antiimps, 68er, NoGlobals, Alternative, etc. Deshalb muss noch mal betont werden, dass es nicht »die« Linke gibt, sondern sie ein fragmentiertes und stark ausdifferenziertes Feld darstellt, indem sich viele Positionen auch diametral entgegenstehen. Innerhalb der einzelnen Teile existieren ebenfalls erhebliche Unterschiede, mitnichten kann von »den« Antideutschen oder »den« 68ern gesprochen werden.

So lässt sich zusammenfassen, dass das Etikett »links« zwar eingängig, die Aussagekraft jedoch sehr gering ist und sehr schnell in einem identitären Sumpf endet, wo Inhalte keine Rolle mehr spielen. Was dazu führt, dass Antisemit:innen, so lange links, und Sexist:innen, so lange antideutsch an der Jacke steht, öffentlich unkritisiert agieren können. Deshalb darf sich eine emanzipatorische Politik nicht an Labels, sondern muss sich an Inhalten orientieren. Die Abgrenzung von der Linken darf nicht zum reinen Selbstzweck gerinnen, welcher nur der Aufwertung der eigenen Gruppe dient. Gegen die eigene Marginalität hilft es auch nicht, sich in der Politszene hervorzutun, indem polemisiert statt kritisiert wird. Es bedarf vielmehr einer kritischen inhaltlichen Auseinandersetzung, d.h. einer Gesellschaftskritik, die sich nicht auf eine Abarbeitung an der Rechten sowie Linken beschränkt.

Wenn man die Bündnispolitik nach Inhalten ausrichtet, so ist es dennoch wahrscheinlicher, dass man bei linksradikalen Gruppen landet, werden hier doch noch am ehesten die Prämissen emanzipatorischer Politik zu finden sein. Dies sind die Kritik am Kapitalismus, die Ablehnung jeglicher Unterdrückungs- und Herrschaftsverhältnisse, wobei die Kritik an den Verhältnissen nicht in einer verkürzten Kapitalismuskritik, d.h. Antisemitismus, Antiamerikanismus enden darf. Ein weiteres Ziel emanzipatorischer Politik ist die Auflösung bürgerlicher Kategorien wie Rasse, Geschlecht und Nation, d.h. Stabilität und Sicherheit suggerierende Konzepte von Kollektiven, die für Nazi-Ideologien wichtig sind. Damit richten wir uns gegen rechte Bedürfnisse nach Ordnung und Sicherheit, wo Abweichungen von der Norm als Bedrohung empfunden werden. Die aus diesen Überlegungen erwachsene Kritik an den deutschen Verhältnissen wendet sich generell an alle. Rezipiert wird diese Kritik jedoch hauptsächlich in dem Teil der radikalen Linken, der für eine emanzipatorische Politik steht. In diesem Umfeld werden antideutsche, herrschaftskritische Positionen zuerst wahrgenommen oder übernommen, wie z.B. die Verweise auf den wiedererstarkenden deutschen Nationalismus und Geschichtsrevisionismus sowie auf die Beständigkeit von Antisemitismus

Unsere Funktion bleibt die der Kritikerin, da sich doch momentan keine Möglichkeit der Realisierung einer besseren Gesellschaft zeigt. Nicht nur die einzige »erfolgreiche« deutsche Bewegung von unten, der Nationalsozialismus, verdeutlichte, wie gefährlich Massenbewegungen sind, sondern auch die Friedensbewegung, die ’89er und die Hartz-IV-Proteste sind Ausdruck der deutschen Gesinnung.

Für die Assoziation freier Individuen ist die Überwindung des Kapitalismus eine notwendige, jedoch keine hinreichende Bedingung. Patriarchale, rassistische, antisemitische Verhältnisse kann es auch danach noch geben, besonders wenn diese Ressentiments der Motor für die Revolution sind. Gegen diese Ressentiments gilt es deshalb sich schon heute zu wehren, aber nicht als Teil eines besseren, modernisierten Deutschlands, sondern als Gegner:innen dieses Landes und des menschenverachtenden kapitalistischen Systems.

Zuerst erschienen in: Phase 2: 16, Sommer 2005, aktualisierte Version im Cee Ieh im Sommer 2020

Darüber wollen wir gemeinsam sprechen. Auf dem Podium kommen Vertreter*innen feministischer Leipziger Gruppen zu Wort, die von unbehaglichen Begegnungen, Übernahmeversuchen und anderen Auseinandersetzungen berichten. Inwieweit sind die queerpolitischen und feministischen Anliegen der K-Gruppen ernst zu nehmen? Warum zieht es junge Linke heute eher in autoritäre als in undogmatische Strukturen? Was haben wir als antisemitismus- und autoritarismuskritische Feminist*innen ihnen entgegenzusetzen? Was ist unsere Vorstellung davon – bei allen Differenzen untereinander –, die patriarchalen und antifeministischen Verhältnisse zu bekämpfen?

Eine Veranstaltung der Vernetzung Emanzipatorischer 8. März.

ACHTUNG: Bitte kommt nicht, wenn ihr Erkältungssymptome habt. Testet euch wenn möglich und tragt bitte Maske. Wir haben auch welche am Einlass.

WARUM WIR VON EINER ÜBERWACHUNGSGESELLSCHAFT SPRECHEN

Redebeitrag der Demovorbereitungs-Kooperation von AFBL (Antifaschistischer Frauenblock Leipzig) und BgR (Bündnis gegen Rechts)

2007

Die heutige Demonstration führt an einer Vielzahl von Orten vorbei, die beispielhaft sind für ein Phänomen, welches sich wohl am besten im Begriff der Überwachungsgesellschaft wiederfindet. Drei Minuten von hier befindet sich der Leipziger Hauptbahnhof, dessen Management die Bilder von über hundert privaten Kameras dem BGS bei seiner Jagd auf MigrantInnen zur Verfügung stellt. Private wie kommunale Kameras werden uns auf dem gesamten Weg durch die City begleiten. Die Zweckentfremdung des öffentlichen Raums zur privatisierten Konsummeile wie hier in der Innenstadt zeigte sich am Versuch des Ordnungsamtes, die heutige Demonstration in die Peripherie abzudrängen. Schlußendlich wird die Kamera am Denkmal des Antisemiten und ehemaligen Leipziger Bürgermeisters Carl Friedrich Goerdeler wunderschöne Aufnahmen dieser Demonstration liefern. Wir alle sind in den letzten Jahren ZeugInnen eines Prozesses geworden, der sich anschickt, die letzten Rückstände gesellschaftlich wirksamen Widerstandes unmöglich zu machen. Diesen Prozess hat die Linke mit ihrer alleinigen Politik gegen den Überwachungsstaat verschlafen. Sie hat nicht erkannt, daß die Träume des Überwachungsstaates längst durch die Überwachungsgesellschaft verwirklicht werden. Widerstand gegen einzelne Ausformungen dieses komplexen Phänomens wird immer erfolglos bleiben, wenn er nicht in eine gesamtgesellschaftliche Analyse eingebettet ist. Greifen nicht alle Kampagnen gegen Repression zu kurz, wenn durch die Normierungseffekte der neuen Sicherheitstechniken wie Kameras oder Chipkartensysteme Widerstand unmöglich gemacht werden soll? Was nützt das alleinige Feindbild Polizei, wenn es längst private Sicherheitsdienste sind, die Bahnhöfe und Einkaufspassagen sicher und sauber halten und jeder KonsumentInnengruppe ihren Platz zuweisen? Natürlich gönnt die Security dem Penner sein Bier am Imbiß, solange er den Teenies ihr Shoppen bei H&M nicht versaut oder den gestressten Geschäftsleuten ihr zweites Frühstück bei Mövenpick. Schließlich muß alles innerhalb der kapitalistischen Logik verwertet werden. Nichts bietet sich also mehr an als der gläserne Mensch, dessen Wünsche, Sorgen und Interessen bekannt sind und der auf diese Art und Weise optimal mit Produkten versorgt werden kann. Die Interessen von KonsumentInnen und Ökonomie treffen sich da, wo KundInnenkarten bequemes und billiges Einkaufen versprechen. Die Industrie wird glücklicher, braucht sie sich doch kaum noch Sorgen über das eventuelle Scheitern eines Produktes am Markt zu machen und die KonsumentInnen bekommen endlich das, was sie immer schon haben wollten. Närrinnen und Narren sind die, welche glauben, daß ihre Daten auch gegen sie
verwandt werden könnten. Schließlich wird Repression, Kontrolle und Überwachung nur die treffen, die etwas zu verbergen haben. So zumindest die landläufige Meinung der Bevölkerung. Deren wahnhaftes Interesse an Sicherheit verstärkt zum einen die Ausgrenzung von konstruierten Randgruppen, zum anderem macht das weitverbreitete Blockwartsdenken auch vor der Haustür des Nachbarn oder der Nachbarin nicht halt. Mit der Benennung eines solchen komplexen Geflechts von Verantwortlichkeiten wollen wir aber nicht sagen, daß Widerstand unmöglich wird. Zwar gibt es keinen Hauptschuldigen, der sich für die gegenwärtige Entwicklung ausmachen läßt, doch braucht es einen solchen auch überhaupt nicht, um mit politischem Widerstand zu beginnen. Die lokalisierten Orte von Macht und Herrschaft bieten genügend Zielfläche, um dagegen anzugehen. Sei es der Widerstand gegen die Residenzpflicht von MigrantInnen oder eine Antirepressionskampagne, die den Staat nicht verklärt. Seien es Aktionen gegen Bürgerinitiativen für mehr Sicherheit und Ordnung oder gegen die Privatisierung öffentlicher Räume. Wenn wir uns die gesellschaftlichen Verhältnisse bewußt machen und nicht nur gegen einzelne Phänomene vorgehen, gibt es keinen Grund, mit dem Widerstand zu warten.

Organisiert den Widerstand! Der Kapitalismus ist nicht das Ende der Geschichte! Für eine herrschaftsfreie, emanzipatorische Gesellschaft! Es liegt an uns, zu zeigen, daß die Politik von Überwachungswahn und Sicherheitshysterie angreifbar ist!

 

IHR SEID NICHT VERGESSEN!

Eine Ausstellung und mehr

2007

Gedenken und Erinnern in Deutschland

In der Ausstellung „Ihr seid nicht vergessen!“ wird die vergessene Geschichte des Mädchen- Konzentrationslagers und der dort inhaftierten Mädchen und Frauen dargestellt. Der AFBL zeigt die Ausstellung vom 01. bis 18. Oktober im Brühl 74, sie wird jeweils Dienstag, Mittwoch und Samstag von 15-20:00 Uhr geöffnet haben.

Das KZ Uckermark wurde offiziell euphemistisch als „Jugendschutzlager“ bezeichnet, in ihm wurden zunächst Mädchen inhaftiert, die von Fürsorgebehörden als asozial, kriminell oder verwahrlost kategorisiert und somit als Gefahr für die deutsche Volksgemeinschaft gesehen wurden. Um die Ausstellung in einen sinnvollen Kontext zu setzen, erweiterten wir die Auseinandersetzung um die angrenzenden Themen: Erinnerungspolitik, faschistische Fürsorge- und Sozialpolitik und ihre Kontinuitäten in der BRD und DDR, die Rolle der Frauen im Nationalsozialismus und die Geschichte Leipzigs während des NS. Die Sozialpolitik sah in den ‚Jugendschutzlagern’ „die ‚kostengünstige’ und ‚sichere Verwahrung’ unter Ausnutzung der Arbeitskraft“(1) Im Nationalsozialismus bedeutete das Folter und willkürliche Vernichtung für die inhaftierten Mädchen. Der Grundgedanke der damaligen Jugendpolitik war, eine homogene Volksgemeinschaft zu schaffen, in der vermeintlich kriminelle oder asoziale Jugendliche in Fürsorgeeinrichtungen isoliert werden. Dieser setzte sich in Teilen in der Sozialpolitik der BRD, z.B. dem Bewahrungsgesetz, und der DDR, in Form der Jugendwerkshöfe, fort.Im Hinblick auf die Rolle der Frauen im Nationalsozialismus geht es uns um das propagierte Frauenbild, die konkrete Beteiligung am Nationalsozialismus und den Umgang mit den Täterinnen nach ‘45 in der Gesellschaft und in der (Frauen-)Forschung.In Leipzig hatte die HASAG, einer der größten Rüstungsbetriebe im NS, ihren Hauptsitz. Neben Siemens und IG Farben war die HASAG der Konzern mit der höchsten Anzahl an ZwangsarbeiterInnen. Ab 1942/43 wurden in den Unternehmen oder in unmittelbarer Nähe KZ-Außenlager errichtet. Das HASAG-Lager in Leipzig war eines von insgesamt 27 Außenkommandos für Frauen des KZ-Buchenwald.

Im Rahmen der Ausstellung werden wir zu den Themen KZ Uckermark, Sozialpolitik, HASAG in Leipzig und Rolle der Frauen im NS Texte veröffentlichen.

Funktionalisierungen von Gedenken

Es ist notwendig, die Geschichte der Opfer des NS-Genozids zu erzählen und in Erinnerung zu halten. Erinnern soll hier nicht heißen, abgeschlossene Geschichte zu betrachten, sondern soll die Kontinuitäten der NS-Ideologie aufzeigen, und der Erinnerungsdiskurs in Deutschland muss dabei einbezogen werden. Andernfalls lässt sich eine solche Ausstellung leicht als eine ‚PR für Deutschland’ instrumentalisieren, wie die neue ‚Wehrmachtsausstellung’, die zeigen soll, wie sehr Deutschland gewillt ist, sich mit den historischen Fakten auseinander zu setzen. Nach ihrer Überarbeitung eignet sie sich besonders gut zur Schuldtilgung, weil nun nicht mehr die Kollektivschuld der Wehrmacht im Mittelpunkt steht, sondern die Verantwortung für Verbrechen individualisiert betrachtet wird, speziell wegen des zugefügten Teiles ‚Handlungsspielräume’, in dem vermeintlich faire Wehrmachtssoldaten porträtiert werden. Zentral für diese andere Interpretation des Vernichtungskriegs ist eine „Entideologisierung der Geschichte“.(2)Voraussetzung für die Individualisierung der Schuld ist eine Historisierung des Holocausts, das heißt geschichtliche Ereignisse „neutral“ aus ihrer Zeit heraus zu betrachten und eine Distanz zum untersuchten Gegenstand herzustellen.(3) Erst diese Distanz und damit einhergehend eine Relativierung und somit Verharmlosung der Schuld der Deutschen ermöglichen die Forderung eines Schlussstrichs unter die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus. Seit dem Historikerstreit Mitte der 80er Jahre gilt in der konservativen Geschichtsschreibung der kategorische Imperativ: Wer von nationalsozialistischen/deutschen Verbrechen reden will, darf von den ‚bolschewistischen Gräueltaten’ nicht schweigen. Dieser Relativierung durch Aufrechnung wurde spätestens seit der Machtübernahme der 68er eine andere Form der Bagatellisierung deutscher Schuld hinzugefügt. Mit der Verantwortung, die sich aus der Geschichte ergibt, wird die deutsche Beteiligung an internationalen Kriegseinsätzen gerechtfertigt.(4) Das Vokabular in der politischen und öffentlichen Debatte impliziert eine Analogie zur Shoah, im Kosovo wurde von serbischen KZs gesprochen, wahlweise werden Saddam Hussein, Osama bin Laden und Bush Ähnlichkeiten mit Hitler zugeschrieben. Einerseits soll der deutsche Faschismus als abgeschlossen gelten und die „Moralkeule Auschwitz“ im Keller bleiben, andererseits dient er als Rechtfertigung für erneutes deutsches Großmachtsstreben. Beide Richtungen stellen durch leichtfertige Vergleiche die Singularität der Shoah in Frage und klammern den antisemitischen Vernichtungswahn des völkischen Kollektivs und die kalte Vernichtungsbürokratie aus. In Abgrenzung zur Schlussstrichdebatte, Historisierung und Rechtfertigungen politischer Entscheidungen mit Auschwitz setzt ein radikaler linker Ansatz die deutschen Verbrechen und die ideologischen Kontinuitäten ins Zentrum der Auseinandersetzung und gedenkt der Opfer des Nationalsozialismus.(5)

Erinnern auf gut deutsch

„Repräsentationen von Geschichte stehen in einem Land, von dessen Wunsch nach Verdrängung man weiß, gleichsam immer schon unter Verdacht.“(6) In Deutschland wird versucht, jede Form von Gedenken für ein nationales Selbstbewusstsein zu vereinnahmen. Das gilt nicht nur für jene, die einen Schlussstrich ziehen wollen, sondern ebenfalls für die, die deutsche Verbrechen anerkennen. Beide Gruppen agieren aus einem nationalen Interesse heraus, das darin besteht, Deutschland zukunftsorientiert mit seiner eigenen Geschichte zu versöhnen. Durchgesetzt hat sich ein verallgemeinerndes Gedenken, in dem Unterschiede zwischen TäterInnen und Opfern eingeebnet werden. Inzwischen zählen sich eigentlich alle zu den Opfern. Eine Identifikation wird möglich, wenn das TäterInnenkollektiv ausgeblendet wird und die deutsche Bevölkerung sich als unschuldig und unwissend oder unterdrückt und machtlos stilisieren kann. Nachdem Auschwitz grundsätzlich anerkannt ist, wird gerade in letzter Zeit das Leiden der Deutschen in und nach dem Krieg verstärkt thematisiert. Während früher nur Stimmen aus dem rechten Lager eine Anerkennung des Unrechts gegen „Vertriebene“ forderten, ist sie heute gesellschaftlicher Konsens geworden. Dank Grass, Spiegel und Guido Knopp können jetzt bedenkenlos dramatische Fluchtgeschichten über die unrechtmäßige Vertreibung erzählt werden. Außerdem werden die „Entbehrungen und Schmerzen“ ausgerechnet der Deutschen während des Krieges diskutiert; Stalingrad ist

lediglich Anlass, die bewegendsten Feldpostbriefe vorzulesen, und in Dresden versammelt sich der Mob, um die Opfer und Ruinen des Alliiertenangriffs zu betrauern. Die Betonung des Schreckens nivelliert den Unterschied zwischen TäterInnen und Opfern und macht die Schuldfrage überflüssig. So soll auch bei dem Berliner Mahnmal eine innere Unsicherheit entstehen, die es allen BesucherInnen ermöglicht, die Leiden der Inhaftierten nachzuempfinden und sich mit ihnen zu identifizieren.(7) Es scheint vollbracht, was alle VertreterInnen der Debatte erfüllt sehen wollten: die Schaffung einer nationalen Identität und einer selbstbewussten Nation. Ihre Positionen treffen sich in dem Widerspruch, „nationale Identität auf einem Verbrechen aufbauen zu wollen, das jeden weiteren deutschen Nationalismus diskreditieren muss.“(8)
Diejenigen, die meinen, den Holocaust nicht zu relativieren, aber dennoch positive Schlüsse ziehen, argumentieren zynischer als jene, die den Holocaust von vornherein verharmlosen. So meinte Habermas im Zuge des Historikerstreits, dass sich „in der Kulturnation der Deutschen erst nach – und durch – Auschwitz“ universalistische Verfassungsprinzipien hätten bilden können. Er glaubte eine „Chance, die die Katastrophe auch bedeuten könnte“, zu erkennen und versuchte durch zweifelhafte Konstruktionen wie der „postkonventionellen Identität“, eine deutsche nationale Identität zu schaffen, die darin bestehen soll, dass es eben keine gebe; er stellte den Pluralismus als Lösung dar.(9)
Weiterhin wird die Auffassung vertreten, dass der 2.Weltkrieg erst die europäische Staatengemeinschaft ermöglichte. Diese These ist beispielsweise ein zentrales Element des Gründungsmythos‘ der EU. Im Zusammenhang mit der Verabschiedung der Europäischen Verfassung wurde der 9. Mai als EU-weiter Europatag festgeschrieben. An diesem Datum wurde 1950 in Paris die Schuman-Erklärung abgegeben, die die Pläne zur Montanunion vorstellt und als Beginn eines gemeinschaftlichen Europas angesehen wird. Zufällig ist dieses Datum sicherlich nicht gewählt. Auf den offiziellen EU Seiten heißt es zum Europatag und der Entstehung der EU: „In Europa leben seit Jahrhunderten Völker zusammen, die sich ihrer gemeinsamen Herkunft und ihrer kulturellen Verwandtschaft bewusst sind. Über Jahrhunderte haben sie sich als Nachbarn ergänzt und zusammengehörig gefühlt. Aber ohne feste Regeln und überstaatliche Einrichtungen konnte dieses Bewusstsein allein die Katastrophen nicht verhindern. Noch heute sind bestimmte Länder, die nicht zur Europäischen Union gehören, vor schrecklichen Tragödien nicht sicher.“(10) Eindeutig wird hier versucht eine gemeinsame europäische Leidensgeschichte/ Opfergeschichte zu schreiben, der Nationalsozialismus als Katastrophe kodiert, die über die kulturellen Völker hereingebrochen ist. Diese neuere Entwicklung im gesellschaftlichen Diskurs über den Zweiten Weltkrieg, die Europäisierung des Leidens, trägt weiter dazu bei, den Unterschied zwischen Opfern und deutschen TäterInnen in den Hintergrund zu schieben. Den Deutschen kommt dieser Feiertag gerade recht, lenkt er doch vom 8. Mai als Tag des Sieges über Deutschland ab oder ermöglicht eine Verbindung des 2. Weltkriegs mit der Entstehung der EU.
Auch die DDR interpretierte in die Vernichtung von über 6 Millionen Menschen etwas Positives. Sie wähnte sich auf der guten Seite und sah sich in der Tradition der antifaschistischen KämpferInnen. Diese ermöglichten mit Hilfe der Sowjetunion erst einen deutschen sozialistischen Staat. Zum Beispiel lautete das „Gelöbnis der deutschen Jugend“ anlässlich des 10. Jahrestages der Befreiung des Konzentrationslagers Ravensbrück: „Der Strom Eures Blutes floss jedoch nicht vergebens. Er vereinigte sich mit dem Blut der ruhmreichen Helden der Sowjetarmee, die unser Volk und die Völker Europas vom Joch des Hitlerfaschismus befreiten. Die Völker der Sowjetunion stehen heute neben uns als unsere besten, teuersten Freunde. Neben uns steht auch Ihr, Ihr tapferen Mütter, mahnend und stärkend.“(11)
Diese Rhetorik weist zusätzlich auf die stereotypen Geschlechterbilder des Gedenkens hin, die

Frauen werden auf eine soziale Rolle reduziert, sie sind lediglich erziehende Mütter, aber keine Heldinnen. Reproduziert werden die Klischees der aktiven Männer und der passiven, erleidenden Frauen, denen eine metaphorische oder symbolische Rolle zugedacht wird.
Die Metapher der Mutter und des Gebärens wird häufig herangezogen, so zum Beispiel schreibt Brecht in seinem Werk „Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui“ über den Faschismus: „Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch.“(12) Während hier die Mutter das Böse gebärt, befriedigen die Bilder des Mütterlichen ansonsten zumeist das Bedürfnis nach „nationaler Unschuld“.(13) Die nächste Generation steht für einen schuldfreien Neuanfang, der Wunsch nach einem „unbefleckten“ Nationalismus wird in den Mutter/Kind Darstellungen deutlich. Der Mutterkult des Gedenkens gipfelte in der Wahl der Käthe Kollwitz-Plastik „Mutter mit ihrem toten Sohn“ als Mittelpunkt der zentralen deutschen Gedenkstätte, der Neuen Wache in Berlin. „Das dargestellte mütterliche Leiden liefert ein Identifikationsangebot, das es den BetrachterInnen erleichtert, sich als trauernde Mitopfer wahrzunehmen.“(14) Jenseits der symbolischen Ebene werden die verfolgten und ermordeten Frauen kaum in das Gedenken einbezogen. Die Heldinnen des westdeutschen Diskurses sind die Trümmerfrauen, und für die Nationenkonstruktion der DDR sind die Widerstandskämpferinnen relevant. Doch auch sie werden als wehrlose Opfer repräsentiert, Widerstandskämpfer hingegen als Helden. So lauten Widmungen auf Kränzen anlässlich des 40. Jahrestages der Befreiung der Lager in Buchenwald und Sachsenhausen: „Den Opfern der Hitlerbarbarei, den Helden des antifaschistischen Widerstandes zum ewigen Gedenken.“ „Den Heldensöhnen des Sowjetvolkes, den aufrechten antifaschistischen Kämpfern, den Opfern der Hitler-Tyrannei zum Gedenken.“ In Ravensbrück wurde jedoch mit dem Spruch: „Den mutigen Frauen des antifaschistischen Widerstandes, den wehrlosen Opfern der faschistischen Bestie zum ewigen Gedenken.“ an die Befreiung erinnert.(15) Während bei den Männern das Rationale und Intentionale im Mittelpunkt steht, tragen der Zusatz „wehrlos“ und der dämonisierende Begriff „Bestie“ zu einer emotionalisierenden Verstärkung des Opferstatus der Frauen bei.

In der DDR und der BRD kamen Frauen unterschiedliche Funktionen innerhalb des Gedenkdiskurses zu, die vermittelten Frauenbilder waren jedoch mit der jeweils folgenden Ideologie übereinstimmend.

Eine Ausstellung und mehr

Unser Anliegen ist es, mit der Ausstellung an die Mädchen und Frauen aus dem KZ Uckermark zu erinnern. Die Ausstellung zeigt einen Ausschnitt des nationalsozialistischen Verfolgungs- und Vernichtungswahns. Um möglichen Verkürzungen und Vereinfachungen, die sich aus der Form einer Ausstellung ergeben, entgegen zu wirken, bieten wir Informations- und Diskussionsveranstaltungen zu den Themen: Erinnerungspolitik, Frauen als Täterinnen im Nationalsozialismus und die Frauenforschung, Sozial- und Fürsorgepolitik und der HASAG in Leipzig an. Diese sollen zusammen mit den veröffentlichten Texten den linksradikalen Kontext, in dem wir die Ausstellung zeigen, verdeutlichen.

Literaturliste

Brecht, Bertolt: Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui. in: Ders: Werke. Bd. 7, Berlin/ FfM 1991, S. 8-115.
cehka: Abgearbeitet. in: Diskus, 2.02, S. 9-15.
Eschebach, Insa/ Jacobeit, Sigrid/ Wenk, Silke (Hg.): Gedächtnis und Geschlecht. Deutungsmuster in Darstellungen des nationalsozialistischen Genozids. FfM 2002. Eschebach, Insa: Heilige Stätte – imaginierte Gemeinschaften. Geschlechtsspezifische Dramaturgien im Gedenken. in: Dies: a.a.O., S.117-133.

Klarenbach, Viola/ Höfinghoff, Sandra: „Wir durften ja nicht sprechen. Sobald man Kontakt suchte mit irgendjemandem, hagelte es Strafen“. Das ehemalige Konzentrationslager für Mädchen und junge Frauen und spätere Vernichtungslager Uckermark. Berlin 1998 Kunstreich, Tjark: Ein bisschen Krieg, in: Jungle World, 49/2000 (29.11.2000).

Lenz, Claudia/ Schmidt, Jens/ von Wrochem, Oliver: Erinnerungskulturen im Dialog. Europäische Perspektiven auf die NS-Vergangenheit. Münster 2002.
Morgenthau-Plenum: Dialog der Generationen. in: Jungle World, 11/2001 (07.03.2001). Rhein Zeitung: Mehrheit für Holocaust Gedenkstätte. (Ausgabe vom 25.6.1999).
Wenk, Silke/ Eschebach, Insa: Soziales Gedächtnis und Geschlechterdifferenz. Eine Einführung. in: Dies: a.a.O., S.13-35.
Wippermann, Wolfgang: Räume ohne Rechte. in: Jungle World, 50/2001 (05.12.2001).

Fußnoten

(1) Klarenbach/ Höfinghoff, S.10.
(2) Kunstreich: „Ein bisschen Krieg“.
(3) Wippermann „Räume ohne Recht“.
(4) vgl. die berühmt-berüchtigten Äußerung des Kriegsministers, dass der Krieg gegen Jugoslawien nicht trotz, sondern wegen Auschwitz geführt werde.
(5) Eine gute Zusammenfassung der Etappen der „Vergangenheitsbewältigung“ findet sich in: Diskus, Nr. 2/02, S. 9-15.
(6) Wenk/ Eschebach S. 15.
(7) www.holocaust-mahnmal.de
(8) Morgenthau-Plenum: Dialog der Generationen.
(9) ebd.
(10) http://europa.eu.int/abc/symbols/9-may/euday_de.htm
(11) Zit nach Eschebach S.125. Vgl. auch die positive Bezugnahme in: „Heiliges Land ist das Fleckchen von Ravensbrück geworden […] durch die Asche der Frauen, die die Erde düngte für die neue Saat, die aus ihrem Opfertod hervorging. Die Ernte aus jener Saat von Blut und Leid kann nur eine glückliche und befreite Welt sein.“ aus: Die Freiheit vom 14.9.1949, zit. nach Eschebach S.120.
(12) Brecht, S. 112.
(13) Lenz, von Wrochem, Schmidt, S. 109.
(14) ebd., S. 110.
(15) Eschebach, S.123f.

KATEGORIE ASOZIAL

Hintergrundtext zur Ausstellung "Ihr seid nicht vergessen!"

2007

In dem KZ Uckermark waren vor allem Mädchen und junge Frauen inhaftiert, die nicht dem Bild der deutschen „Volksgemeinschaft“ entsprachen.
Die „Volksgemeinschaft“ war eine der tragenden Säulen nationalsozialistischer Ideologie. Sie sollte möglichst homogen sein – wer nicht in das Bild passte, wurde von der deutschen Bevölkerung und staatlichen Institutionen scharf beobachtet, verfolgt, separiert, ermordet. Neben Juden und Jüdinnen, die von vornherein aus der „Volksgemeinschaft“ ausgeschlossen waren, galten auch Menschen mit als von der Norm abweichendem Verhalten kategorisierten, v.a. in den Bereichen Wohnen, Arbeiten und Sexualität, als nicht dazugehörig. Sie wurden als „minderwertig“ und „gemeinschaftsunfähig“ klassifiziert und als „Asoziale“ bezeichnet.

Der Vielfalt der unangepassten Verhaltensweisen entsprechend ist der Begriff „asozial“ äußerst vage, in ihm wurde alles, was störte, zusammengefasst. Versuche von Definitionen finden sich in verschiedenen Erlassen von Himmler und dem Entwurf zum „Gemeinschaftsfremdengesetz“. Der Verfasser eines Handbuches über Erbkrankheiten forderte gar, die Definition solle dem „Volksempfinden“ überlassen werden.

Als Frühsymptome bei Jugendlichen galten z.B. Rauchen, Faulheit, Eigensinn, Trotz, Zerstörungslust, Schulschwänzen.(1) Schon in der Weimarer Republik gab es Ansätze zur Bekämpfung der „Asozialenfrage“, eine rechtliche Absicherung sollte durch das „Bewahrungsgesetz“ gewährleistet werden, das von vielen Fürsorge- und SozialpolitikerInnnen seit 1928 verstärkt gefordert wurde. Nach der Machtübernahme der Nazis wurden das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ und das „Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher“ erlassen, im Mai 1939 folgte ein Erlass, in dessen Folge eine „Reichszentrale zur Bekämpfung der Jugendkriminalität“ innerhalb des Reichskriminalpolizeiamtes eingerichtet wurde. Ihre Aufgabe war „die kriminalpolizeiliche Überwachung von Kindern und Jugendlichen, die erblich kriminell belastet scheinen“(2), sowie die praktische Bekämpfung. Damit wurde in der Jugendpolitik nachgeholt, was für Erwachsene schon seit 1938 Praxis war. In diesem Jahr bekam die „Asozialenverfolgung“ eine neue Qualität, es wurden im Zuge der „Aktion Arbeitsscheu“ Menschen inhaftiert, denen man vorwarf, ungenügend zu arbeiten oder unentschuldigt zu fehlen. Zuspätkommen oder Krankheit konnte so Deportation in ein Arbeitslager und damit oft Tod bedeuten.

Unter „Jugendschutz“ gestellt

Der Erlass über die Bekämpfung der Jugendkriminalität beinhaltete explizit auch Anwendung „polizeilicher Zwangsmittel“(3), was u.a. Deportation in KZs bedeutete. 1940 wurde das „Jugendschutzlager“ Moringen eingerichtet, wobei hier nicht die Inhaftierten geschützt, sondern die Volksgemeinschaft vor dem Einfluss „volksschädigender Elemente“ bewahrt und darüber hinaus abgeschreckt werden sollte. Die Lager erfüllten eine doppelte Funktion: Während die Jugendbehörden eine Möglichkeit suchten, ihrer Meinung nach „unheilbare“ Fürsorgezöglinge aus den überfüllten „Bewahrungsanstalten“ auszugliedern, legte Himmler, der seit 1936 auch die Befehlsgewalt über die Polizei innehatte, den Schwerpunkt auf die Ausnutzung der Arbeitskraft der jungen Menschen. Die Jugendschutzlager war ein Reservoir an billigen ArbeiterInnen, die in den ersten Kriegsjahren gerade in der Rüstungsindustrie fehlten.

Das Mädchenkonzentrationslager Uckermark

In Moringen waren v.a. männliche Jugendliche inhaftiert, es gab aber auch zwei Blöcke mit Mädchen, die wie Strafgefangene behandelt wurden. 1941 wurde beschlossen, ein gesondertes Mädchenlager zu errichten, ein Jahr später wurde der Plan umgesetzt. In unmittelbarer Nähe des Konzentrationslagers Ravensbrück mussten Häftlinge Baracken bauen. In den Jahren ‘42 bis ‘45 waren insgesamt ca. 1200 weibliche Jugendliche inhaftiert. Vorgesehen war das Lager für Mädchen und Frauen im Alter zwischen 16 und 19, wobei die Altersgrenze in „begründeten Fällen“ unterschritten werden durfte, so dass auch bedeutend jüngere Mädchen eingewiesen wurden.

Einweisungsgründe waren bei den Mädchen neben der angeblichen Aussichtslosigkeit fürsorgerischer Maßnahmen wirkliche oder unterstellte Beteiligung am Widerstand, Verweigerung des BDM-Dienstes, „Arbeitsvertragsbrüche“, und insbesondere „sexuelle Verwahrlosung“. In seiner Schwammigkeit dem Begriff „asozial“ ähnlich, wurde unter dieser Bezeichnung alles subsumiert, was dem nationalsozialistischen Bild eines „gesunden, sittlichen“ weiblichen Privatlebens widersprach: eine Beziehung zu „Fremdvölkischen“, „häufig wechselnder Geschlechtsverkehr“, wobei es reichte, trotz nächtlicher Ausgangssperre auf der Straße angetroffen zu werden oder sich mit einer Geschlechtskrankheit angesteckt zu haben, um unter Verdacht zu fallen. Die Kategorie „sexuelle Verwahrlosung“ wurde ausschließlich bei Mädchen und Frauen angewandt und war gleichzeitig der häufigste Einweisungsgrund, wohingegen sie bei Jungs gar nicht zum Tragen kam. Die Leiterin

Toberentz erklärte in einem Bericht über das KZ Uckermark: „Ursache und Art des Entgleisens sind immer wieder entscheidend geprägt durch die Triebhaftigkeit, die in Verbindung mit Hemmungslosigkeit und Minderbegabung zur sexuellen Verwahrlosung führt.“(4) Wie erwähnt kooperierten bei der Einweisung die Fürsorge- und Sozialbehörden eng mit der Kriminalpolizei und der GESTAPO. Die Einweisungsgewalt lag bei der Polizei, sie reagierte auf Anzeigen aus der Bevölkerung, von Eltern und LehrerInnen, sowie auf die Vorschläge der Fürsorgeheime und Sozialbehörden. Nach der Inhaftierung wurden die betroffenen Mädchen und Frauen zunächst zur „Sichtung“ in das KZ Ravensbrück gebracht, eine demütigende Prozedur, die Duschen, Kahlschur und „Untersuchung“ durch SS-ÄrztInnen beinhaltete, um dann ins KZ Uckermark überstellt zu werden. Neben der Leiterin Lotte Toberentz, eine Kriminalrätin der Weiblichen Kriminalpolizei (WKP), und ihrer Stellvertreterin Johanna Braach führten ca. 80 weitere angebliche Erzieherinnen die Aufsicht im KZ, jedem Block waren zwei SS-Kräfte der WKP zur „Bewachung und Anleitung der Häftlingsarbeit“ (5) zugeteilt. Jeweils achtzehn Mädchen und jungen Frauen lebten in einer Baracke, wobei es verschiedene „Blöcke“ gab, in die sie je nach „Schwere des Falls“ eingeteilt wurden. So ergab sich ein „Drei-Stufen-System“: Vom sogenannten Beobachtungsblock für die gerade Eingelieferten kamen die Mädchen nach ca. einem halben Jahr in den Block für „Erziehungsfähige“ oder den für „Triebhafte, ewige Querulantinnen und Uneinsichtige“. Zusätzlich gab es einen „Sonderblock“ für slowenische Mädchen/Frauen, die im Verdacht standen, PartisanInnen unterstützt zu haben, und somit politische Gefangene waren. Für die Beurteilung innerhalb des „Drei-Stufen-Systems“ waren „kriminalbiologische“ Gesichtspunkte ausschlaggebend, die von Robert Ritter, Leiter des Kriminalbiologischen Instituts der Sicherheitspolizei, erstellt wurden. In der Bekämpfung der „Asozialen“ hatte die Kriminalbiologie im Laufe der dreißiger Jahre eine immer wichtigere Position eingenommen. Sie beruht auf der Prämisse, dass kriminelle und asoziale Verhaltensweisen erblich bedingt seien; Ziel war es, „die Persönlichkeit des Rechtsbrechers und die Ursachen seines dissozialen Handelns zu erforschen.“(6) Das Mädchen-KZ Uckermark galt Ritter als Experimentier- und Forschungsfeld für das „Wachsen und Werden von Verbrecherfamilien“. Dementsprechend hatte in der Beurteilung der Häftlinge das Leben der Eltern einen großen Einfluss: z.B. Alkoholismus eines Elternteils, Unehelichkeit oder Abhängigkeit von Sozialhilfe wirkten sich negativ aus. Der Alltag der Häftlinge war geprägt von Schikanen und Zwangsarbeit. Es gab elf Arbeitskommandos mit unterschiedlich schwerer Arbeit, u.a. bei Siemens und in der Land- und

Forstwirtschaft; im Lager mussten sie z.B. kochen, Puppen für SS-Angehörige nähen oder Kleidung ausbessern. Die Lagerordnung zielte auf totale Isolation der Häftlinge ab: Briefe wurden zumindest zensiert, wenn sie denn empfangen oder verschickt werden durften, und nach innen versuchte man eine Solidarität unter den Häftlingen durch ein 24-stündiges Redeverbot zu verhindern. Ein diesbezüglicher Regelbruch zog schwere Strafen nach sich, z.B. Ohrfeigen, Prügel, Strafstehen, Verwarnungen, Entziehen von Vergünstigungen und Essen, Arrest. Meist wurden auch die arbeitsfreien Sonntage mit Strafen für Verstöße gefüllt. Nach frühestens anderthalb Jahren oder mit Erreichen der Altersgrenze wurde eine mögliche Entlassung geprüft, auch hierbei basierte die Entscheidung auf den kriminalbiologischen Beurteilungen. Die Frauen aus dem Block für „Erziehbare“ mussten nach ihrer Entlassung in der Land-, Forst- oder Hauswirtschaft oder der Rüstungsindustrie arbeiten, die anderen verblieben im nationalsozialistischen Lagersystem; sie wurden ins KZ Ravensbrück oder in sogenannte Pflege- und Heilanstalten überwiesen.

Das Vernichtungslager Uckermark

Ab Ende ‘44 war in Ravensbrück wie in anderen KZs die Überfüllung dermaßen groß, dass man nach Möglichkeiten suchte, die Vernichtungsmaschinerie zu effektivieren. Weil das Lager Uckermark nah bei Ravensbrück war, dort die Baracken schon vorhanden waren und das SS- Überwachungssystem installiert, bot es sich an, es auch als Vernichtungslager zu nutzen. Der dafür vorgesehene Teil des „Jugendschutzlagers“ wurde durch einen Stacheldraht abgetrennt; in diesem Bereich wurden einige Baracken zu Gaskammern umgebaut. In dem Mädchenlager blieben von den Inhaftierten vierzig bis sechzig Mädchen, einige wenige wurden entlassen, der überwiegende Teil wurde nach Ravensbrück oder in andere Lager verlegt. Die Arbeitsunfähigen aus Ravensbrück, sowie die Überlebenden des Warschauer Aufstands wurden selektiert und in das neu errichtete Vernichtungslager gebracht. Einige Frauen aus Ravensbrück meldeten sich freiwillig, weil sie dem von den Aufseherinnen lancierten Gerücht glaubten, dass im ehemaligen Jugendlager bessere Arbeitsbedingungen herrschten. In Wirklichkeit wurden die Frauen dort systematisch umgebracht, zum einen durch die weiter verschlechterten „Lebensbedingungen“, z.B.: eine Unterkunftsbaracke für 400 Frauen, stundenlanges Appellstehen, Herabsetzung der Lebensmittelrationen und den Gefangenen wurden Mäntel und Decken weggenommen. Gleichzeitig wurden Frauen gezielt in Gaskammern und mobilen Gaswagen, durch Erschießungen und Giftinjektionen getötet. Die genaue Zahl der Ermordeten ist nicht bekannt, Schätzungen zufolge wurden zwischen

Januar und April 1945 ca. 5000 bis 6000 Frauen ermordet. Zur Tarnung wurde in die Akten der Frauen, die ermordet werden sollten, der Vermerk „Schonungslager Mittwerda“ geschrieben. Am 14. April wurden die letzten noch lebenden Häftlinge überstürzt ins Hauptlager zurückverlegt. Bis zur endgültigen Befreiung fand noch ein weiterer letzter Funktionswandel statt. Das ehemalige „Jugendschutzlager“ diente nun als Zwischenstation u.a. für die Überlebenden des Transports aus dem geräumten Konzentrationslager Mittelbau-Dora, der sich mit etwa 4000 männlichen Häftlingen in Bewegung gesetzt hatte. Ende April befreite die Rote Armee die Lager Uckermark und Ravensbrück. Das Gelände wurde nach Kriegsende zum militärischen Sperrgebiet und z.T. durch die Rote Armee überbaut. 1993 zogen die GUS-Truppen ab, 1997 fanden drei Workcamps statt, um die Fundamente freizulegen und mehr über das Lager herauszufinden. Die Lagergemeinschaft Ravensbrück/Freundeskreis e.V. bemüht sich seit Jahren, die Geschichte des Mädchen-KZs bekannter zu machen und die Zerstörung der Spuren und Fundamente aufzuhalten. So konnten durch Proteste die Eröffnung eines bereits gebauten Supermarkts verhindert und der Bau einer Umgehungsstraße verschoben werden. Inzwischen hat die für das Gelände zuständige Stadt Fürstenberg die Bereitschaft zu einer so weit es geht angemessenen Gestaltung des Areals signalisiert und schrieb einen Internationalen Landschaftsplanerischen Ideenwettbewerb für eine Gesamtkonzeption aus, wobei die Lagergemeinschaft Ravensbrück/Freundeskreis nicht einbezogen wurde. Eine Auflage des Wettwerbs war, eine möglichst kostengünstige Idee zu entwickeln. Doch auch eine Umsetzung der „Billigpläne“ ist mit der Begründung mangelnder Finanzierungsmöglichkeiten ausgesetzt worden. Eine Gedenkstätte, die auch ausdrücklich auf das KZ Uckermark und seine Hintergründe eingeht, wird es nicht geben.

Nach ‘45: Aus dem öffentlichen Bewusstsein verbannt

Auch nach 1945 setzte sich der Leidensweg für die im Nationalsozialismus als „Asoziale“ verfolgten Menschen oftmals fort. Das harte Vorgehen gegen „Asoziale“, die der NS-Ideologie folgend mit „Kriminellen“ gleichgesetzt wurden, wurde in der Nachkriegszeit als positiv gewertet, Zwangsarbeit, KZ, Misshandlungen dieser Menschen galt nicht als NS-Unrecht. Im Bundesentschädigungsgesetz (BEG) von 1953, das Entschädigung im Sinne von Schadensausgleich gar nicht vorsah, wurde anerkannt, dass „Personen, die wegen ihrer politischen Überzeugung , aus Gründen der Rasse, des Glaubens oder der Weltanschauung unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft verfolgt worden sind, Unrecht geschehen

ist.“(7) Mit dieser Formulierung wird die Sicht der TäterInnen reproduziert, nicht die Verfolgung und Verschleppung ins KZ, sondern die Motivation der Nazis ist der Maßstab für die Eingriffe bzw. Zerstörung der Menschenwürde. Dadurch bleiben viele Gruppen und Einzelpersonen stigmatisiert und als Opfer aus dem öffentlichen Bewusstsein ausgeschlossen, z.B. auch Homosexuelle, Behinderte, sogenannte „Arbeitsscheue“, Prostituierte und andere, die als „Unwerte“ kategorisiert wurden. Viele schämten sich für ihren Aufenthalt im KZ Uckermark, hielten es sogar vor engsten Verwandten geheim; eine Organisation fand kaum statt, auch weil sie als „Nicht-politisch- Verfolgte“ aus Überlebendenverbänden ausgeschlossen wurden. Im Fall der „Jugendschutzlager“ ergibt sich die zusätzliche Härte, dass sie erst 1970 als Konzentrationslager anerkannt wurden. Das Lager Uckermark wurde zuvor als Fürsorgeheim gesehen, die vielfältigen Anbindungen an das FKL Ravensbrück, der Einsatz von SS-Kräften und ähnliches galten in den Prozessen als sekundär. Keine der Verantwortlichen wurde nach 1945 bestraft, Lotte Toberentz (Leiterin) und Johanna Braach (Stellvertreterin) wurden zwar wegen Misshandlungen angeklagt, aber aufgrund mangelnder Beweise nicht verurteilt. Im Gegenteil, alle Aufseherinnen konnten bruchlos ihre Berufe wiederaufnehmen und als z.B. Kriminalbeamtinnen und Sozialarbeiterinnen arbeiten. Die Aufseherinnen, die im Mädchen- KZ den Frühsport abhielten, wurden danach oft als Turnlehrerinnen beschäftigt. Entschädigungen für die ehemaligen Inhaftierten wurden kaum gezahlt. Nach Anerkennung von Moringen und Uckermark als KZs gab es eine halbjährliche Frist, in denen sie Anträge auf „Wiedergutmachung“ stellen konnten. Die Betroffenen erfuhren davon nichts oder viel zu spät, da diese Maßnahme nur im Bundesgesetzblatt veröffentlicht wurde. Seit den ‘80er Jahren gibt es in zwar in einigen Bundesländern Härtefonds, um aber die meist geringfügigen Zahlungen zu erhalten, müssen die Opfer langwierige, komplizierte und oft demütigende Prozesse führen.

Literaturliste:
(Hg.) Füllberg-Stolberg, Claus u.a.: Frauen in Konzentrationslagern. Bergen Belsen,

Ravensbrück. Bremen 1994.
(Hg.) Limbächer, Katja; Merten, Maike; Pfefferle, Bettina: Das Mädchenkonzentrationslager Uckermark. Beiträge zur Geschichte und Gegenwart. Münster 2000.
Klarenbach, Viola; Höfinghoff, Sandra: „Wir durften ja nicht sprechen. Sobald man Kontakt suchte mit irgendjemandem, hagelte es Strafen.“. Das ehemalige Konzentrationslager für Mädchen und junge Frauen und spätere Vernichtungslager Uckermark. Berlin 1998.
Ayaß, Wolfgang: „Asoziale“ im Nationalsozialismus. Stuttgart 1995.

Fußnoten:

(1) Frauen in Konzentrationslagern, S.300
(2) zit. nach „Wir durften ja nicht sprechen“, S. 12
(3) Ayaß, „Asoziale“, S.180
(4) L.Toberentz, zit. nach das Mädchenkonzentrationslager Uckermark, S.26 (5) Das Mädchenkonzentrationslager Uckermark S.27
(6) R. Ritter, zit nach Das Mädchenkonzentrationslager Uckermark, S.26
(7) zit. nach Das Mädchenkonzentrationslager Uckermark, S. 210

Die neue Heimat Europa verraten

Aufruf des BGR und des AFBL zur bundesweiten Demonstration am 24. Juli 2004

2004

Der Tag der Landung der Alliierten in der Normandie, der sogenannte D-Day, jährt sich 2004 zum sechzigsten Mal. Bei den Feierlichkeiten gibt es in diesem Jahr ein Novum: erstmals ist ein deutsches Regierungsoberhaupt zu den zentralen Feierlichkeiten in die Normandie geladen. Es ist abzusehen, dass der Festakt unter Anwesenheit von Bush, Chirac, Blair und Schröder als „Rekonstruktion des Westens“ (J. Fischer) interpretiert werden wird.

Die hierzulande mit großer Genugtuung aufgenomme Einladung des Bundeskanzlers durch den französischen Präsidenten demonstriert in erster Linie die übereinstimmende Interessenskonstellation zwischen Berlin und Paris. Sie ist Ausdruck des Bemühens beider Staaten, unter ihrem besonderen Einfluss eine europäische Großmacht durchzusetzen. Der Festakt in der Normandie ist mit dieser neuen Zusammensetzung der TeilnehmerInnen in erster Linie Bestandteil einer politischen und symbolischen Strategie, eine europäische Großmacht nicht nur mit ökonomischen und machtpolitischen Argumenten zu begründen. Vielmehr soll eine historisch-moralische Legitimation für ein starkes Europa konstituiert werden. Aus dem Zweiten Weltkrieg, der nicht als „deutsches Verbrechen mit universellem Ausmaß“ (Salomon Korn) gesehen, sondern zur europäischen Katastrophe umgedeutet wird, wird die Notwendigkeit für ein geeintes Europa abgeleitet. Somit wird der Zweite Weltkrieg – und damit auch der Holocaust – zu einem Gründungsmythos der Europäischen Union. Symbolisch kann eine Brücke zwischen der Allianz gegen den Nationalsozialismus vor 60 Jahren und heute geschlagen werden. Die Feierlichkeiten zum D-Day betonen aber nicht nur das sicherheitspolitische Allgemeininteresse der kapitalistischen Führungsmächte, welches nach den Anschlägen von Madrid verstärkt in den Vordergrund gerückt ist. Darüber hinaus wird das deutsch-französische Interesse an einem starken Europa, einer zunehmenden Europäisierung und an einer gemeinsamen Geschichte bzw. Geschichtsschreibung verdeutlicht.

Deutschland nutzt diese Gelegenheit, um die Geschichte der deutschen Verbrechen während des Nationalsozialismus, ja die deutsche Nationalgeschichte im Allgemeinen, in einem europäischen Zusammenhang zu entwirklichen. Eine verallgemeinerte Leidenserfahrung ist der Kitt für diese Art der Geschichtsinterpretation, und bewusst wird hierzulande auf Differenzierungen zwischen nationalsozialistischer Wehrmacht und alliierten Truppen verzichtet. Deutsche TäterInnen können so unter die Opfer subsumiert werden, und der gesamte historische Kontext, die Fragen nach den Ursachen, bleiben außen vor.

Befördert wird dies auch durch das Interesse an einer gemeinsamen europäischen Geschichtsschreibung, die eine Schuldabwehr für Deutschland erleichtert. Gerade offizielle Verlautbarungen der EU unterstreichen die gemeinsame Vergangenheit immer wieder, um eine nationale Identität als EuropäerIn konstruieren zu können. Diese Vergangenheitspolitik, an der gerade Deutschland ein großes Interesse hat, ist Teil eines europäischen Prozesses, der als Nationalisierung bezeichnet werden kann. Konstruktionen und Ideologien, die bereits zu Zeiten der Nationalstaatenbildung benötigt wurden, werden nun in Bezug auf einen „Staat Europa“ erneut herangezogen. Der wirtschaftlichen und politischen Integration Europas wird unter anderen über die Konstruktion einer gemeinsamen europäischen Geschichte ein modernisiertes Identifikationsmodell zur Seite gestellt. Sowohl dem Tod deutscher als auch alliierter Soldaten wird ein historischer Sinn zugeschrieben und er dient im Nachhinein etwas Höherem. Die „Debatten-Beiträge“ im Vorfeld des 6. Juni werden sicherlich an europäische Geschichtskonstruktionen anknüpfen, wie sie bereits während des Irakkrieges deutlich geworden sind.

Wenn Schröder in der Normandie Hände schüttelt, wird an dem Ort, wo einst entscheidend zur Niederlage des deutschen Faschismus mit seinem Vernichtungswahn beigetragen wurde, eine Befreiung von der Geschichte zelebriert und das heutige Deutschland wird zu einem normalen, rechtmäßigen Teilnehmer an den Feierlichkeiten. Für Deutschland stellt der Festakt eine Befreiung ganz eigener Art dar. Die Einladung ist ein Erfolg für die rot-grüne Geschichtspolitik – das moderne Deutschland kann sich gerade wegen seiner Geschichte als Antrieb für ein starkes Europa präsentieren. Die Auschwitz-Rhetorik im Vorfeld des Jugoslawienkrieges hatte die Richtung bereits vorgegeben: Geschichte wird nicht vergessen, wie es u.a. Walser verlangte, sondern nutzbar gemacht. Ein Ende dieser perfiden Argumentation, der Legitimierung von außenpolitischen Entscheidungen mit dem Nationalsozialismus und einer aus ihm entstandenen vermeintlichen besonderen Verantwortung Deutschlands, ist nicht abzusehen. Der Aufenthalt in der Normandie ist somit lediglich ein Beispiel für diese Normalisierung. Deutschland wird seine Interessen überall verteidigen oder durchsetzen – in Europa, gegen oder mit den USA und sogar in Israel. Der Einsatz deutscher SoldatInnen in Israel ist eine Optionen, die bekanntlich bereits diskutiert wird. Und immer wird die in einen europäischen Kontext gesetzte deutsche Geschichte herangezogen. Neben einer moralischen Absicherung weltweiter Interventionsbefugnisse dient diese Geschichtspolitik der besonderen Selbstvergewisserung der Deutschen. Als späte SiegerInnen und europäisch geläuterte Opfer der Geschichte ist ein positiver, identitärer Bezug, sei es auf die Heimat, die eigene Region, Nation oder Europa leichter als jemals nach 1945.

Europa einig Vaterland
 

Die Entwicklung zu einem Nationalstaatsmodell Europa wird auf mehreren Ebenen vorangetrieben. Sowohl in der Wirtschafts-, Sicherheits- und der Außenpolitik läuft eine Europäisierung auf Hochtouren, ideologisch unterfüttert durch Nationalismus und Heimatkonstruktionen. Trotz unterschiedlicher Positionen, Widerstände und Widersprüche zwischen den einzelnen Staaten ist der Integrationsprozess gemeinsamer Konsens.

Nach den Anschlägen von Madrid richteten sich die Aufrufe mancher Regierungschefs und EU-FunktionärInnen an das „europäische Volk“. Dies scheint mehr als pures Lippenbekenntnis zu sein: die Folgen der terroristischen Anschläge treiben die europäische Integration weiter voran. Insbesondere Überlegungen aus Spanien und Polen, die EU-Verfassung – das zentrale Dokument für eine „Nation Europa“ – unter neuen Gesichtspunkten zu verhandeln, aber auch die Erwägung, die Truppen ohne UN-Mandat aus dem Irak abzuziehen, zeigen, dass die Europäisierung auch auf eben noch stockenden Teilbereichen weiter voranschreitet.

Spätestens seit dem Schengener Abkommen und dem Vertrag von Maastricht Anfang der 90er Jahre wird die sicherheits- und außenpolitische Integration intensiviert, z.B. über europäische Polizei, Geheimdienstkoordination, Grenzregime und EU-Militär. Die EU-Osterweiterung wird zum Anlass genommen, Ängste zu schüren, welche als Begründung für einen stärkeren Ausbau der Grenzkontrollen dienen. 

Auf keinem Gebiet wurde in den letzten Jahren so viel, so schnell und so unbürokratisch vergemeinschaftet wie in der europäischen Asyl- und Einwanderungspolitik. Sie führt die rassistische AusländerInnenpolitik der Einzelstaaten auf EU-Ebene fort und reproduziert damit auf einer höheren Ebene nationalstaatliche Ein- und Ausschlüsse. EU-Abschottungspolitik wird jedoch zunehmend durch Migrationsmanagement und -kontrolle ergänzt. Ökonomisch verwertbaren MigrantInnen wird – meist nur temporär – eine Tür zum europäischen Arbeitsmarkt geöffnet, wenn es auf diesem wahlweise an Fachkräften oder an BilliglohnarbeiterInnen mangelt. Für die Unerwünschten, die den Nützlichkeitskriterien nicht entsprechen, bleibt Europa jedoch eine Festung. Aktuell werden verstärkt Sicherheitserwägungen als Begründungen für die Verschärfungen des Asylrechts herangezogen – mit der Angst vor Terroranschlägen lässt sich rassistische Politik unkompliziert durchsetzen.

Die reale Politik Europas hat nichts mit emanzipatorischer oder auch nur sozialer Politik zu tun. Das mag wie ein Allgemeinplatz klingen, erscheint uns aber wichtig zu erwähnen, weil es auch in Teilen der Linken Stimmen gibt, die sich positiv auf Europa beziehen. Während Teilbereiche an Europa durchaus kritisiert werden, z.B. Asylpolitik und Sozialabbau, wird Europa trotzdem als Projektionsfläche benutzt, um eine neue Heimat – außerhalb von Deutschland – zu finden. Dabei wird genau das Identifikationsangebot der bürgerlichen Politik angenommen. Eine besondere Bedeutung hat dabei die Präsentation Europas als Alternative zu den USA.

Der Alptraum einer europäischen Weltordnung
 

Die politischen Differenzen innerhalb Europas, wie sie angesichts des Irakkrieges deutlich geworden sind, bezeugen, dass Europa in vielen Bereichen noch nicht mit einer Stimme sprechen kann. Aber auch wenn der Entwicklungsstand sowie der realpolitische Einfluss einer „Nation Europa“ dem Wunschbild einer den USA auf allen Ebenen ebenbürtigen Weltmacht noch weit hinterherhinkt, sind die darauf ausgerichteten Bestrebungen doch bereits realitätsbildend. Die Politik ist darauf ausgerichtet, im ökonomischen Bereich mit den USA gleichzuziehen bzw. diese zu überholen und auf militärischem Gebiet zumindest unabhängig und eigenständig agieren zu können. Auch wenn gegenwärtig eine direkte Konfrontationen nicht denkbar ist, zeigt die gewollte Konkurrenzsituation bereits Auswirkungen. Im Nahen und Mittleren Osten können Regime und Terrorgruppen auf europäische Duldung und teilweise Unterstützung zählen, die einer Neuordnung der Region nach amerikanischer Vorstellung entgegenstehen. Das zerstörerische Potential dieser alternativen Weltordnungspolitik wird dabei nicht zuletzt durch die Duldung und Unterstützung von AkteurInnen deutlich, die Selbstmordanschläge in Israel unterstützen.

 

Innerhalb und außerhalb Europas basiert die Vorstellung einer alternativen Weltordnung auf der hasserfüllten Abgrenzung vom amerikanischen „Weltpolizisten“ und vom „Raubtierkapitalismus“. Diese Abgrenzung fungiert als kollektives Bindemittel, welches über die einzelnen europäischen Nationen hinaus Zusammenhalt stiftet. Dabei werden in Europa Traditionen mobilisiert, die den Unterschied zu den USA hervorheben und sich als geeignetes Instrument gegen das zur Zeit herrschende Machtungleichgewicht zwischen der EU und den USA erweisen. Die Verteidigung des Völkerrechts und die deutsche Betonung der Rechte von Volksgruppen, die Mobilisierung sozialer Unterschiede und das Schüren religiöser Konflikte haben sich schon im 20. Jahrhundert als ebenso wirkungsvoll wie verheerend erwiesen. Angesichts der militärischen Unterlegenheit gegenüber den USA zeigt sich heute, dass diese strategischen Traditionen nie abgebrochen sind. Wobei sich die EuropäerInnen trotz der mörderischen Geschichte einer solchen Weltordnungsalternative mit ihren Strategien auch noch kulturell und moralisch erhaben fühlen.

 

Gerade was die einzelnen Instrumente der Außenpolitik betrifft, kann zwar noch nicht von einer einheitlichen europäischen Außenpolitik gesprochen werden, deutlich ist jedoch, dass die Außenpolitik der EU von Deutschland und Frankreich bestimmt wird. Dabei werden auch traditionelle ideologische Gegensätze überbrückt. Denn Konzepte wie die Volksgruppenpolitik werden gegenwärtig auch von Deutschland nicht als bloßer Selbstzweck verfolgt. Zwar sind solche Vorstellungen innerhalb von Konfliktbewertungen und strategischen Überlegungen immer präsent, ihre aktive Verfolgung bettet sich jedoch in eine kalkulierte Interessenpolitik ein, in der auch der europäische Ausgleich stattfindet. Elemente wie die Volksgruppenpolitik bleiben so auch dann aktuell, wenn ihnen moderne sicherheitsstrategische oder ökonomische Überlegungen den Rang streitig zu machen scheinen.

Zwar steuern weder die Entwicklung einer europäischen Ökonomie noch die Aufrüstungsziele der EU gerade auf einen innerimperialistischen Showdown zu, ideologisch aber wird die Kampfansage bereits formuliert. Das sichert den Rückhalt in der Bevölkerung, denn die positive Identifikation mit Europa basiert auf dieser Feindbildkonstruktion, und die USA sowie Israel gehören zu den zentralen Feindbildern in der europäischen Bevölkerung. Anti-Amerikanismus bildet die emotionale Grundlage für die Zustimmung breiter Bevölkerungskreise und ebenso von Teilen der Linken in Deutschland und anderswo zum Projekt Europa. Ganz offensichtlich wurde dies während des Irakkriegs in der „neuen Friedensbewegung“: Antiamerikanismus war augenblicklich abrufbar und machte das Gefühl, auf einer besseren Seite zu stehen, erst möglich. Der positive Bezug auf ein „soziales Europa“ und die Solidaritätsadressen an die palästinensische Intifada sind als deutliche Kampfansage der europäischen Bevölkerung an die USA und Israel zu verstehen. Das heißt allerdings nicht, dass sich die europäische Identität in der Abgrenzung zu den USA erschöpft. So knüpft sie, beispielsweise den Rassismus betreffend, vielfach an die in den nationalen Identitäten enthaltenen Ausgrenzungen an. 

Die Linke als Teil des Problems
 

In Europa schreiten die Großmachtbestrebungen weiter voran. Und in der Zwischenzeit werden Allianzen mit autoritären Regimes geschlossen, separatistische Volksbewegungen unterstützt oder es wird auch schon mal offensiv die Hilfe beim Kampf gegen den islamistischen Terror im Irak verweigert. Während also die europäische Außenpolitik jeden Anlass bietet, ihr entgegenzutreten, entdeckt die europäische Linke die Interpretationsmuster des Kalten Krieges wieder: die USA als Hauptfeind, der Protest gegen die Amerikanisierung als kulturelles Amalgam und Israel als Speerspitze des Imperialismus und mithin größte Bedrohung für den Frieden auf der Welt. Unter solchen Bedingungen erscheint Al Qaida, wenn nicht als grundsätzlich durch die amerikanisch diktierte Weltordnung legitimiert, so doch als gerechte Geißel, die den Krieg gegen die Unterdrückten ins Herzen der Bestie zurückträgt. Und der inzwischen jeglicher fortschrittlichen Fassade entkleidete palästinensische Kampf für die Vernichtung Israels und die Errichtung eines islamistischen Staates Palästina wird weiter zum sozialen Widerstand gegen eine völkerrechtswidrige Besetzung verklärt. Auf linker Seite werden so die negativen Seiten der alternativen europäischen Weltordnungsphantasien noch gesteigert. Europa erscheint dieser Linken folgerichtig als kleineres Übel und als Chance, dem amerikanischen Hauptfeind entgegentreten zu können.

 

Wenn Antiamerikanismus und Antisemitismus als wichtige Elemente einer europäischen Identität angesprochen werden, dann weil es sich bei ihnen nicht zuletzt um linke Welterklärungsansätze handelt, die ihren Weg zurück in jenes Massenbewusstsein gefunden haben, aus dem sie ursprünglich stammten. Doch auch weitere Wesensmerkmale in der Legitimation Europas stimmen mit in der Linken gepflegten Vorstellungen überein. So wandelt sich europafreundlicher Antimilitarismus unter den Bedingungen der militärischen Unterlegenheit in das Lob ziviler Konfliktlösungsmodelle. Abgesehen davon, dass sich die Militarisierung der EU-Außenpolitik nichts desto trotz weiter vollzieht, weil die Mehrheit der BefürworterInnen einer europäischen Gegenmacht die Notwendigkeit unabhängiger militärischer Ressourcen einleuchtend finden muss, werden vom antimilitaristischen Lager die Instrumente der europäischen Interessenverfolgung als fortschrittlich verklärt. Dabei sind es nicht zuletzt die Interventionen unterhalb des militärischen Eingreifens, die zur Ausweitung des eigenen Machtbereichs, der Destabilisierung anderer Staaten und für die Durchsetzung der Volksgruppenpolitik genutzt werden. Warum solche Mittel im Gegensatz zu militärischen Interventionen stehen oder auch nur ein kleineres Übel darstellen sollen, bleibt nach der Erfahrung der Zerschlagung Jugoslawiens und den bis heute andauernden Übergriffen der albanischen Volksgruppe auf alle anderen unbegreiflich.

 

Ähnlich absurd sind die Bezüge auf die Tradition der sozialen Befriedung in Europa, die es gegen die Globalisierung und die für sie angeblich hauptsächlich verantwortliche USA zu verteidigen gälte. Diese Sicht auf Globalisierung verwandelt ihre Kritik zwangsläufig in einen Beitrag zur Restauration des Nationalen, ist der Nationalstaat doch für sie die einzige Instanz, die soziale Standards sichern kann. Europa als modernisiertes nationales Projekt ist deshalb das wirkliche Ziel der Altermondialisation, der „alternativen Globalisierung“. In ihm scheinen die nationalen Grenzen überwunden und zugleich die Rolle des starken Staates erhalten. Dass Europa prinzipiell eine Tradition habe, die sozialer sei als das kapitalistische Modell in den USA, bleibt dabei – egal ob in antiamerikanischer oder proamerikanischer Pose geäußert – ein Mythos. Ihm widerspricht die Politik des New Deal, die in den USA den Sozialstaat einführte, genauso wie der gegenwärtige Abbau sozialstaatlicher Sicherungen, der sich dort und in den europäischen Staaten vollzieht. Die staatliche Sicherung der kapitalistischen Ökonomie, der gerade auch der Sozialstaat dient, ist nicht geeignet, Differenzen zwischen den USA und Europa zu erklären.

Sowohl der Mythos vom „sozialen“ wie auch der vom „zivilen Europa“ gehören zur Verklärung der Politik in der eigenen Heimat, mit der sich das europäische Kollektiv als Konkurrenzmacht konstituiert. Ihm entspricht der Wahn, Europa würde der Welt aufgrund einer höheren kulturellen Qualität des eigenen Strebens zu Zivilität und ewigem Frieden verhelfen. Die Linke vertieft diesen Wahn, denn während auf der Ebene der realen politischen Entscheidungen Faktoren vom gemeinsamen transatlantischen Antiterrorkampf bis zur einflussreich politisch verteidigten Wirtschaftsinterdependenz nicht aufhören, eine Rolle zu spielen, ist sie in ihren Entwürfen einer anderen Welt nicht an solche Überlegungen gebunden.

Ganz folgerichtig bringt eine Linke, die sich auf die alten Welterklärungsmuster stützt, dem modernisierten Nationalstaatsprojekt und der Praxis kapitalistischer Interessenspolitik keinen vernehmbaren Widerstand entgegen, sondern beteiligt sich stattdessen an den Europa gewidmeten Legitimationsdiskursen des gesellschaftlichen Mainstreams. Doch gab es in der Folge der Wiedervereinigung in Deutschland auch schon den Beginn einer anderen Tradition. In den neunziger Jahren ließ sich zumindest für die Radikale Linke die Hoffnung hegen, dass sich Heimat- und Nationenkritik zu einem Standardrepertoire entwickeln würden. Allerdings verlieren diese Erkenntnisse in der konkreten praktischen Orientierung von heute immer mehr an Bedeutung. Selbst dort, wo nationalstaatliche Orientierungen, Antisemitismus und Antiamerikanismus als kennzeichnende Bestandteile der real existierenden Bewegungen analysiert werden, werden von den Antifas der Neunziger heute Bündnisse gegen Globalisierung, Krieg oder Sozialabbau gesucht. Statt über eine deutliche Polarisierung die Position einer radikalen Gesellschaftskritik überhaupt erkennbar zu machen, wirken jene Gruppen in diesen Bündnissen an der Durchsetzung moderner systemaffirmativer Kollektividentitäten mit und werden so, statt zur Vorreiterinnen eines emanzipatorischen Aufbruchs, zu Trägerinnen deutsch-europäischer Ideologien.

Gerade in Deutschland zeigt sich dabei, dass der Bezug auf eine europäische Identität heute die zentrale Klammer zwischen der fortgesetzten Simulation außerparlamentarischer Opposition und dem Hauptstrom nationalstaatlicher Politik ist. So wird ein Großteil der Linken hierzulande zu einem Trittbrettfahrer bei einem Prozess, der Deutschland doppelten Mehrgewinn verspricht. Zum einen scheint über die Schaffung einer europäischen Identität die Modernisierung der Nationalstaatsideologie zu gelingen, welche die Menschen dem flexibilisierenden Verwertungsprozess angepasst an die kapitalistischen Verhältnisse bindet. Darüber hinaus oder besser in diesem Zusammenhang gelingt es Deutschland, die Bedeutung der NS-Verbrechen in bisher nicht gekanntem Ausmaß zu relativieren. Im gesamteuropäischen Erinnern geht die deutsche Schuld verloren und jegliche Ursachenbestimmung verkommt zur Farce.

Jenseits der Bekenntnispolitik
 

Es ist mit Blick auf die derzeitige Funktion der Friedens- und globalisierungskritischen Bewegungen als Legitimitätsbeschafferinnen für ein deutsch-europäisches Großmachtprojekt und ihre ideologische Verfasstheit heute notwendig, die Kritik an der Linken praktisch werden zu lassen. Doch diese Auseinandersetzung kann nur ein erster Schritt sein. Die Analyse der deutsch-europäischen Großmachtambitionen und der antiamerikanisch/antisemitischen Ideologie, auch außerhalb der Grenzen Europas, ruft nach offensiver Auseinandersetzung durch eine antideutsche und damit notwendigerweise antieuropäisch-kosmopolitische Linke. Der tatsächliche Widerstand gegen Antisemitismus und Antiamerikanismus beschränkt sich bisher weitgehend auf Bekenntnisse. Die Beschäftigung mit der europäischen Realität ist nicht nur ein Vehikel, diesen Bekenntnissen eine Richtung zu geben. Weil sich im transformierenden Europa Antiamerikanismus und Antisemitismus dauerhaft organisieren und beide in der europäischen Identität eine modernisierte Grundlage finden, wird Europa geschichts- und realpolitisch zu einer ebenso dauerhaft zu bekämpfenden Größe.

 

Die Entwicklung einer Praxis gegen das Projekt einer europäischen Gegenmacht weist dabei über die Beschreibung einer Welt hinaus, in der anti-emanzipatorische Bewegungen die Vorstellung vom ganz Anderen des Kapitalismus genauso dominieren, wie der Kampf der USA und ihrer Verbündeten gegen diese reale Bedrohung das Bild von Freiheit und Emanzipation prägt. Nur in der Auseinandersetzung mit den in und über Europa verfolgten Strategien einer alternativen Weltordnung, nur im offenen Gegensatz zu Antiamerikanismus und Antisemitismus entsteht die Möglichkeit, Emanzipation wieder zu denken.

 

Das gilt nicht nur für eine antideutsche Linke. Auch für eine antikapitalistische Linke muss es von Interesse sein, die Ablehnung Europas damit zu begründen, dass es sich hierbei um ein modernisiertes Nationalstaatsprojekt handelt. Die herrschende Organisationsform des Kapitalismus wird mit Europa nicht aufgelöst, sondern höchstens Bezugs- und Legitimationsebenen verändert. Auch weiterhin dient die Nation den Interessen des Kapitals, auch weiterhin bleibt sie Rahmen und Begründung für staatliche Unterdrückung, für rassistische Ausschlüsse sowie für die ideologische Nivellierung sozialer Unterschiede. Die vorgestellte und praktizierte Gemeinschaft widerspricht auch im europäischen Rahmen der freien Entfaltung der Menschen. Wie immer diese auch letztendlich aussehen mag, eine europäische Nation wird schon für den Gedanken daran zu einer Grenze, gegen die sich linker Kosmopolitismus wenden sollte.

 

Die Wirkung des Bezugs auf eine Heimatkonzeption, egal mit welchen Argumentationsmustern er jeweils erfolgt, belegen inzwischen eine ganze Reihe bekannter historischer Vorläufer: von der deutschen Sozialdemokratie bis zur Heimatliebe der Umweltbewegung – am Ende der Orientierung stand nicht mehr die linke Kritik, sondern die Identifikation mit den herrschenden Verhältnissen. Die neue Heimat Europa bildet da keine Ausnahme. So heftig auch die Auseinandersetzungen um ein „soziales Europa“ geführt werden mögen – die emanzipatorische Überwindung des Kapitalismus ist mit dieser Parole bereits ausgeschlossen. Statt einer Radikalisierung des uneinheitlichen Unbehagens an der Entwicklung des Kapitalismus führt der Bezug auf Europa geradewegs in institutionalisierte Interessenvertretung und den Versuch der Neuaushandlung der alten Sozialstaatsübereinkünfte.

Insofern wenden wir uns nicht nur als KritikerInnen nationaler Identität gegen Europa und seine ProtagonistInnen. Als AntikapitalistInnen vertreten wir eine radikale Position, die neben dem Widerspruch zwischen europäischer Sozialstaatsideologie und der neoliberalen Realität auch noch den Zweck der einstigen Klassenkompromisse zu kritisieren weiß. Dieser bestand nicht ausschließlich darin, das schönere Leben möglich zu machen, auch wenn Forderungen individuell natürlich tatsächlich die Verbesserung der Lebenssituation zum Ziel hatten. Vielmehr diente er immer dazu, auch nach Krankheit und Arbeitslosigkeit die Ware Arbeitskraft wieder der Verwertung zuführen zu können und für Ruhe und Ordnung an der Heimatfront, also für die Absicherung des kapitalistischen Betriebsfriedens zu sorgen.

Für eine Linke, die sich weder vom antinationalen und sozialem noch vom zivilen Schein der Europakonzeption, für die es bereits jetzt eine gesellschaftliche Mehrheit gibt, dumm machen lässt, muss es heute darum gehen, gegen den europäisch-antiamerikanischen Konsens Position zu beziehen. Denn es ist sicher, dass Europa kein Projekt emanzipatorischer Veränderungen ist oder sein wird: an keiner Stelle weist es über die Zumutungen kapitalistischer Verhältnisse hinaus. An keiner Stelle verspricht es eine bessere Welt. In der sozialstaatlichen Befriedung von sozialen Widersprüchen, die vermehrt eine ideologische Setzung ohne materielle Entsprechung ist, und der Forderung nach einem „sozialen Europa“ schwingt die Bejahung der Grundlagen der kapitalistischen Organisation und von Staat und Kapital mit. Im Ruf nach einer europäischen Weltordnungspolitik verbergen sich die zivilisatorisch bemäntelten, fatalen Strategien einer Mindermacht, die auf antiemanzipatorische, insbesondere antiamerikanische und antisemitische Kräfte zu setzen bereit ist, um ihre Unterlegenheit auszugleichen. Sich dagegen deutlich zu positionieren, ist unsere Aufgabe.

Links ist da, wo keine Heimat ist. 
Keine Nation Europa, kein Deutschland!
 

Brief aus Leipzig

Kritik am diesjährigen Aufruf zur Demo gegen den größten deutschen Abschiebeknast in Büren

2000

Anders als im letzten Jahr haben wir uns in diesem Jahr entschieden, nicht zur bundesweiten Demo gegen Abschiebeknäste zu mobilisieren. Da das nicht (nur) aus Zeitgründen, der Notwendigkeit, Prioritäten zu setzen oder mangelndem Engagement geschieht, haben wir unsere Kritik an der diesjährigen Vorbereitung und dem Aufruf formuliert und dem Vorbereitungskollektiv als Brief zugeschickt.

Auch in diesem Jahr hätten Themen wie frauenspezifische Flucht- und Migrationsgründe, Verknüpfung von Rassismus und Sexismus (u.a. in der BRD/EU-„Asyl-“ und Abschiebepolitik) und deren Ignoranz innerhalb der linken/linksradikalen Szenen Teil der Vorbereitung und des Aufrufs sein können und sollen. Warum in diesem Jahr wieder nach Büren und nicht nach Neuss gefahren werden soll, wird nicht erwähnt. Gab es dazu eine Diskussion, ist das eine Reaktion auf die geringe TeilnehmerInnenzahl des letzten Jahres, kickt Büren mehr, weil größer? Wenigstens in den Anschreiben an die einzelnen Gruppen hätte das thematisiert werden sollen. Wir denken, daß u.a. Neuss gezeigt hat, daß eine Auseinandersetzung mit sexistischen Handlungs- und Denkmustern in linken/linksradikalen Gruppen (weiter) geführt werden muß. Diese hätte durch einen Anstoß der breiteren Diskussion und ein Festhalten an Neuss als Demoort passieren können.

Zusätzlich zum Übergehen von Sexismus ist der zweite große Kritikpunkt von uns der Aufruf. Wir finden, es wird zu oberflächlich, kurz und unpolitisch argumentiert. Zum Beispiel wird nach wie vor eine Hoffnung auf Rot/Grün (sowohl im zweiten Absatz als auch im letzten Satz) impliziert, die schon seit Jahren nicht mehr gerechtfertigt ist. Daß SPD und Grüne eine rassistische und hetzerische Politik betreiben, sollte inzwischen keiner Erwähnung mehr bedürfen. SPD oder Grüne haben diese Politik nicht „nahtlos übernommen“, sondern von vornherein aktiv betrieben, sowohl in der vermeintlichen Opposition in Bonn, als auch in den Bundesländern (gerade NRW ist knastmäßig ganz vorne dabei).

Zwar wird die rassistische Abschottungspolitik der EU genannt. Warum diese betrieben wird, z.B. deren kausale Verknüpfung mit dem kapitalistischen System, findet keine Erwähnung.

Der Aufruf kritisiert indirekt die Sprache der PolitikerInnen, in dem Anführungsstriche verwendet werden, daß Worte wie „Zuwanderungsströme“, „terroristische Banden“ etc. aber direkt den Boden bereiten für den nationalistischen, rassistischen Mob und die öffentliche Meinung noch weiter nach rechts schieben, wird nicht benannt. Worte wie „geströmt“ und „überschwemmen“ oder der versächlichende Begriff „Flüchtling“ stehen ohne Anführungszeichen, die klare Abgrenzung zu diesem rassistischen Sprachgebrauch fehlt.

Viele Themenbereiche werden nur kurz angerissen (z.B. Sachleistungen statt Kohle, Abschiebepraxis, Fluchtursachen und -gründe), dabei wird eine Kritik nicht wirklich deutlich. Eigene Forderungen und Argumentationen fehlen leider. So sind „Art und Qualität“ von Lebensmittelpaketen unserer Meinung nach vollkommen irrelevant, da die Forderung nach deren Abschaffung unabhängig von ihrer Güte besteht.

Daß die Macht- und Ressourcenverteilung Folge und Ziel der jahre- und jahrhundertelangen westeuropäischen und deutschen Politik war und ist, arbeitet die Vorbereitungsgruppe nicht heraus. Kolonialismus und aggressiver rassistischer Kapitalismus, der genau diese vorhandene Aufteilung der Welt benötigt, werden nicht in die Verantwortung genommen. Statt dessen wird nur von einer „Mitschuld“ an „Armut und Zerstörung des Lebensraumes“ geschrieben. Eine genauere politische Analyse wäre angebracht.

Bei der Beschreibung des bürokratischen Vorgangs bei Abschiebungen bleibt die Kritik ebenfalls an der Oberfläche. Egal, ob irgendwelche Einschätzungen „die tatsächlichen Verhältnisse“ in einem Land beschreiben, eine politische Forderungen ist doch, daß die Grenzen weg müssen und jede Person ohne irgendeine Einschränkung leben kann, wo sie will. Verinnerlichter Rassismus wird unserer Meinung nach noch befördert, in dem explizit darauf hingewiesen wird, daß in Büren „ca. 90% der Inhaftierten … nicht straffällig“ geworden sind. Wahrscheinlich denken die meisten Menschen bei Knast an Kriminalität. Und auf die Normalität einer Inhaftierung ohne dem System einen Grund geliefert zu haben, muß durchaus immer wieder hingewiesen werden. Aber in dieser verkürzten Version bleibt die Argumentation rein bürgerlich. Nach dem Motto: Sogar „unschuldige“ Menschen werden in den Abschiebeknast gesteckt. Als wäre es bei nach BRD-gängiger „Rechtspraxis“ Kriminellen noch zu verstehen, daß sie weggesperrt werden. Diese unterschwellige Meinung wird verfestigt, in dem der Text nicht die Forderung nach der Schließung aller Abschiebeknäste aufstellt. Der brutal rassistische Alltag wird nicht angeprangert und dessen Beendigung nicht gefordert.

In dem abgesetzten und fett gedruckten Statement auf der Vorderseite wird lediglich um Verständnis für MigrantInnen gebeten, da „niemand“ „ohne Grund und… psychische Belastung“ in die BRD komme. Wir denken, daß die Forderung „Grenzen auf für alle“ nach wie vor Bestand hat und niemand einen Grund benötigt oder dem deutschen System Rechenschaft schuldig ist, warum sie oder er entschieden hat, hier zu leben. Gerade in einer Zeit der rechten Hegemonie und offen rassistischer Hetze ist es wichtig, sich nicht in einen vermeintlichen Dialog zu begeben, sondern an radikaler Kritik festzuhalten.

Ein Aufruf kann selbstverständlich nie ein Thema vollkommen und umfassend behandeln. Deshalb ist es nötig, einzelne Punkte zu betonen und einer politischen Analyse zu unterziehen. In dem diesjährigen Aufruf werden viele Themen kurz angesprochen, ohne sie jedoch auszubauen, so daß von einer linken/linksradikalen Kritik kaum etwas zu bemerken ist. Dies ist besonders verwunderlich, weil gerade zu Büren bereits seit mehren Jahren gearbeitet wird.

afbl (antifaschistischer frauenblock leipzig)

SAVE THE RESISTANCE! Bundesweite Demonstration gegen Überwachungsgesellschaft und Sicherheitswahn

Kurzfassung des Aufrufes zur bundesweiten Demo gegen Überwachungsgesellschaft und Sicherheitswahn am 14.10.2000 in Leipzig.

14.10.2000

Eine Kooperation von Bündnis gegen Rechts Leipzig (BGR) und Antifaschistischer Frauenblock Leipzig (AFBL) in Zusammenarbeit mit der Kampagne zur Rückgewinnung öffentlicher Räume.

Der Diskurs der “Inneren Sicherheit” steht seit einigen Jahren hoch im Kurs. War früher der bolschewistische Ostblock oder umgekehrt der imperialistische Klassenfeind das Schreckensszenario, was die innere Sicherheit gefährdete, lebt heute der Diskurs der “Inneren Sicherheit” von anderen Feinden. Der “Asylantenflut” wurde schon 1993 mit der Änderung im Grundrecht effektiv begegnet, was die “Angst” der deutschen Bevölkerung vor allen Fremden aber nicht bremsen konnte, denn weitere rassistische Gesetzgebungen folgten und der rassistisch motivierten Eigeninitiative einiger Deutschen fielen weitere Menschen zum Opfer. Doch die Gefahr für die innere Sicherheit lauert überall: ”albanische Drogenmafia”, “rumänische Schmucklerbanden”, “polnische Autoschieber”, “gewaltbereite Jugendliche”, “Penner”, “Schmierfinken”, “Autonome”. Neue Gesetze mußten her: Lauschangriff, schärfere Länderpolizeigesetze, Ausweitung polizeilicher Befugnisse, allgemeines Kontrollrecht, Vorbeugegewahrsam, Einschränkung des Demonstrationsrechtes, Videoüberwachung öffentlicher Plätze, polizeiliche Verfolgung von SchulschwänzerInnen, Gendatenbanken, Reiseeinschränkung für Hooligans etc. Doch uns ist aufgefallen, das der herkömmliche Begriff Überwachungsstaat das Phänomen nicht erfaßt. Es ist nicht allein der Staat, der Menschen normiert und überwacht, der Menschen ausgrenzt und gegen sie vorgeht. Der Sicherheitswahn durchzieht einen Großteil der Gesellschaft. Unser Hauptaugenmerk soll sich daher gegen die Überwachungsgesellschaft richten.

Den Vorstellungen einer herrschaftsfreien Gesellschaft stehen heutzutage nicht mehr offensichtlich absoluter Staat oder die Bourgeoisie von vor 150 Jahren entgegen. Unterdrückungs- und Herrschaftsverhältnisse reproduzieren sich quer durch die

Gesellschaft. In Familie, Schule, Uni, Fabrik, Militär etc. Zu leiden haben in erster Linie die, die bestimmte Kriterien nicht erfüllen können oder wollen, und nicht in die ihnen zugewiesenen Rollen schlüpfen wollen. Männlich, weiß, heterosexuell, arbeitsam, diszipliniert und gesund sind beste Kriterien, die eine gute Ausgangslage garantieren. Disziplinierungstechniken von gestern ergeben mit neuen von heute ein komplexes Kontrollsystem, dem sich einzelne kaum noch entziehen können. Das harte Regime des Lernens, Lebens und Arbeitens, welches seine Vollendung im Arbeitstakt der Fließbänder fand, wird heute ersetzt oder ergänzt durch Methoden, die keine sklavische Unterwürfigkeit erfordern und doch funktionieren, besonders dann, wenn die Teilnehmenden mitmachen. Und bekanntlich machen die meisten mit, da sie es aus ihrer Familie, Schule und Uni nicht besser kennen. Teamwork, Sozialarbeit, Dresscode etc. regeln heute zusätzlich Konformität und Leistungsbereitschaft und suggerieren zugleich Gleichheit und Freiheit. Doch das war es noch nicht, was Überwachungsgesellschaft ausmacht.

Ein großer Teil der Identität wird heutzutage aus Konsumfähigkeit und –sicherheit gespeist. Nicht umsonst schreitet in den Bereichen von Konsum und Eigentumssicherung die Überwachung ideologisch und technisch am schnellsten fort. Die Armut stört. Niemand will sie in den glänzenden Einkaufszentren sehen oder von ihr bedroht werden. Nicht selber in Armut zu verfallen, fördert wieder die eigene Anpassung an die Gemeinschaft, um ja dazu zu gehören. Der Kapitalismus schafft unterschiedliche Besitzschichten. Das führt zu Konflikten, denen repressiv vorgebeugt wird. Sicherheitspartnerschaften zwischen Geschäften, Polizei und privaten Sicherheitsdiensten gehören heute zu Innenstädten, wie das Schengener Abkommen zu Europa gehört, um sich vor Menschen zu schützen, die mit ihrer Armut in der Festung Europa nicht erwünscht sind. Hier sei nur an das Schengener Informationssystem (SIS) erinnert, daß zu 90 Prozent mit Daten von Personen gefüllt ist, deren Einreise nicht erwünscht ist, und von sämtlichen Behörden, Polizei und Soldaten ergänzt und benutzt wird. Das moderne Marketing als Ausdruck der Identitäts- und Wertevermittlung im ökonomischen System des Kapitalismus tut sein übriges, um Werte zu pushen. Konsum und Besitz bestimmen die Stufe des sozialen Seins, verkörpern Sicherheit und Zufriedenheit im Leben

Aber nicht nur Kaufkraft und Besitz, auch eine Vielzahl traditioneller Werte und Identitätsmuster verursachen den Wahn nach mehr Sicherheit. In Sachsen beispielsweise wurden wieder Kopfnoten in der Schule eingeführt. Ordnung, Disziplin, Mitarbeit und Fleiß, auch deutsche Sekundärtugenden genannt. Dieser Wahn schafft eine Identität, der diejenigen zum Opfer fallen, die aufgrund ihrer Herkunft nicht dazu gehören dürfen oder diejenigen, die diese Tugenden nicht erfüllen können und wollen. Die Überwachungsgesellschaft spiegelt also ökonomische, institutionalisierte und ideologisierte Herrschaftsverhältnisse wider.

Linksradikale betrifft diese gesellschaftliche Realität ebenfalls. Wir sind eine Gefahr für die Sicherheit und Ordnung dieser Gesellschaft. Denn die Vorstellung einer herrschaftsfreien Gesellschaft, stellt Kapitalismus, Patriarchat und Vaterland mit samt deren Institutionen immer wieder grundsätzlich in Frage. Es geht am Ende nicht darum, liberale Positionen, wie es die der individuellen Freiheit ist, zu verteidigen, aber darum, die Spielräume für unsere Handlungsfähigkeit nicht noch enger werden zu lassen.

Handlungsansätze sollen hier nicht tot geredet werden. Auch wenn die Überwachungsgesellschaft vielschichtig ist, sind einige Orte von Macht und Ordnung immer noch leicht lokalisierbar. Der Staat, die Polizei und die Bürgerinitiative für mehr Ordnung und Sicherheit sind als Zielflächen zunächst vorhanden. Die gesamtgesellschaftlichen Verhältnisse müssen uns aber dabei bewußt bleiben, um nicht nur einzelne Phänomene zu bekämpfen. Es wird sich zeigen, daß die Politik von Sicherheitshysterie und Überwachungswahn angreifbar ist.

Es ist nie falsch, das Richtige zu tun!
Gegen Kapitalismus – für eine herrschaftsfreie Gesellschaft

Mail: afbl@nadir.org

Post: afbl CO linXXnet. Brandstraße 15, 04277 Leipzig